Themen

,

Das rechte Maß: Das 22. Berliner Gespräch im Rückblick

4. Dezember 2017

Till Budde
Till Budde
Van Bo Le-Mentzel

Am Ende wurde es fast clownesk im vollbesetzten Taut-Saal des DAZ: Der Social-Media-Aktivist und Lebenskünstler Van Bo Le-Mentzel führte die von einer Community am Berliner Bauhaus-Archiv gebauten Tiny Houses von sechs Quadratmetern in einer Art szenischem Einmann-Rollenspiel vor, bei dem er die Rolle seiner Kritiker gleich mitübernahm, die ihm neoliberale Ausbeutung und hemmungsloses Selbstmarketing vorwerfen. Die Frage, ob die auf einem Trailer montierten und zum Wohnen nicht zugelassenen Minihäuser nicht nur eine Art temporäre Installation seien, parierte er unangreifbar mit: „Was wir hier anrichten auf der Welt, ist das nicht auch eine temporäre Installation?”

Till Budde
Till Budde
Heiner Farwick

Eingeleitet hatte BDA-Präsident Heiner Farwick das 22. Berliner Gespräch „Das rechte Maß. Bedarf, Bedürfnis und die Architektur der Gegenwart” mit lebensnahen Betrachtungen über das rechte Maß beim Wohnen, beim Wein-Einkauf und beim Gang durch Supermarktreihen, wo Convenience Food und Süßigkeiten dominierten und Grundnahrungsmittel fast schon gesucht werden müssten. „Die Spanne zwischen dem Notwendigen und dem Wünschenswerten, zwischen Überleben und Leben, prägt auch den Unterschied des ‚Bauens‘ zur ‚Architektur’”.

Till Budde
Till Budde
Christian Neuhäuser

Auch Andreas Denk, der sich mit Marta Doehler-Behzadi die Moderation teilte, definierte die Architektur einleitend als „vermittelnde Funktion zwischen Leib und Umwelt”. Der Dortmunder Philosoph und Soziologe Christian Neuhäuser breitete dann die „ethischen Grundlagen des zeitgenössischen Konsums” aus und nahm sich dabei vor, „die Moralkeule möglichst sanft zu schwingen“. Da Konsumentscheidungen moralische Konsequenzen haben, riet er einerseits zu einer „Ethik der Konsumentenverantwortung“, denn „die können ja nicht machen, was sie wollen“. Doch einen einfachen Konsumverzicht, zu dem noch im Vorjahr Harald Welzer aufgerufen hatte, hält Neuhäuser andererseits für schwer durchsetzbar: Denn „Statuskonsum ist Teil der persönlichen Würde”, da Konsumgüter den sozialen Status anzeigen: So sei Konsum nicht in jedem Falle vorwerfbar, da er Teil des Kampfes um gesellschaftliche Anerkennung sei. Es sei eben schwer, aus Zusammenhängen auszutreten, die zum Konsum anstiften.

Till Budde
Till Budde
Josef Matzerath

Der Dresdener Historiker Josef Matzerath unternahm dann einen kurzweiligen Parforceritt durch die europäische Ernährungsgeschichte. Auch wenn er die ungerechten Mechanismen des globalen Handels mit Nahrungsmitteln deutlich kritisiert („Europa exportiert Hunger!“), konzentrierte er sich auf die Ästhetik des Genusses in den verschiedenen Epochen und spannte so einen Bogen von der wenig effizienten Feldwirtschaft des 11. Jahrhunderts zu industriellem Convenience Food, das allerdings ein Degustationserlebnis verhindere. Das ging zum Beispiel so: Auf die „Fresswelle“ im Wirtschaftswunder mit Toast Hawaii und Wienerwald, aber ohne Interesse an Kochkunst, folgte die Gegenbewegung der Haute Cuisine und schließlich die Ökologiebewegung mit der Sensibilisierung für Herkunft und Qualität der Nahrungsmittel. Ist das die Lösung? Matzerath ist skeptisch: „Wo Gesundheit anfängt, hört Genuss auf”, zitiert er Wolfram Siebeck, der das „deutsche Küchenwunder der 1970er Jahre” mit ins Rollen gebracht hatte.

Till Budde
Till Budde
Bettina Köhler

Die Kunsthistorikerin Bettina Köhler (Basel/Zürich) nahm sich dann die Modeindustrie mit ihren atemberaubend schnellen Kollektionswechseln vor, was zu der Erkenntnis führte: „Geld ist immer knapp, unabhängig davon, wie viel man besitzt.” Köhler führte verblüffende Analogien zwischen Avantgarde-Labels und traditionellen Trachtenkleidern vor und beschrieb das Dilemma der Bekleidungsbranche, von der „Mode für die arbeitende, reisende, tanzende Mutter mehrerer Kinder” erwartet werde.

Till Budde
Till Budde
Rainer Hehl

Schließlich hielt der Berliner Architekt Rainer Hehl ein „Plädoyer für eine Verhandlung des Angemessenen”. Beginnend beim Gründungsmythos der Moderne in den 1920er Jahren, dem Bauen für das Existenzminimum, landete er schnell bei der in der Schweiz weit verbreiteten Genossenschaftsbewegung: „40 Prozent des Wohnraums in Zürich ist der Marktlogik entzogen”, aber auch: „Es reicht nicht, ein paar Baugruppen herumexperimentieren zu lassen.” Vor seriellem Bauen als Allheilmittel warnte er gleichwohl: „Die Standardisierung des Minimums hat den Armen nicht geholfen”, um dann mit Peter F. Drucker zu schließen: „Der beste Weg, die Zukunft vorherzusehen, ist sie zu gestalten!”  (-tze)

Till Budde
Till Budde

Till Budde
Till Budde
Rainer Hehl
Till Budde
Till Budde
Marta Doehler-Behzadi, Heiner Farwick, Andreas Denk, Rainer Hehl
Till Budde
Till Budde
Van Bo Le-Mentzel
Till Budde
Till Budde
Sven Silcher, Heiner Farwick

Till Budde
Till Budde