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„Quartiere in der Stadt”: Bericht vom 24. Berliner Gespräch

9. Dezember 2019

Das 24. Berliner Gespräch des BDA widmete sich am 7. Dezember 2019 unter dem Titel „Gemeinsinn und Gesellschaft” den „Quartieren in der Stadt” (Untertitel). Von den vielfältigen Definitionen des Begriffs Quartier bis hin zum Finale, dem Appell zum klimagerechten Verhalten des kämpferisch auftretenden Ernst Ulrich von Weizsäcker, spannte die Veranstaltung einen weiten Bogen auf.

Hier geht es zur Video-Dokumentation des Berliner Gesprächs

Till Budde
Till Budde
Ernst Ulrich von Weizsäcker

Zunächst startet BDA-Präsidentin Susanne Wartzeck mit einem der berühmten Aphorismen von Luigi Snozzi in den Tag: „Baust du einen Weg, ein Haus, ein Quartier, dann denke an die Stadt“. Hier werde das Quartier also als die Größeneinheit zwischen Haus und Stadt beschrieben. „Und es stimmt ja auch mit unseren Alltagserfahrungen überein: Auf der Ebene des Quartiers wird Nachbarschaft erlebt, hier wird gewohnt, gearbeitet, eingekauft. Und: Hier entscheidet sich, ob der Beitrag des Bauwesens zum Klimaschutz Erfolg hat. Das Quartier ist der Schlüsselbaustein zu einer funktionierenden, sozialen Stadt.”

Wartzeck ist dabei nicht blauäugig: „Architektinnen und Architekten können Sozialität nicht erzeugen, aber sie können Aspekte des Gemeinschaftlichen beim Planen und Bauen unterstützen, indem sie einen politischen Impetus hervorrufen.” Sie erläutert das am Beispiel von Snozzis langjährigen Work in Progress in Monte Carasso, wo eben nicht nur ein ambitionierter künstlerischer Entwurf auf Akzeptanz vor Ort stieß, sondern auch das Bauen auf Gemeinwohlzwecke fokussiert werden konnte.

Till Budde
Till Budde
Susanne Wartzeck

Mit einem Bogen über die „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“, die im Jahr 2020 fortgeschrieben werden soll und im Besonderen die Bedeutung der „benachteiligten“ Quartiere herausstellt, leitet sie zu Andreas Denk über, der zusammen mit Ricarda Pätzold die Moderation übernimmt. Für Denk ist das Quartier „das grundsätzliche Ordnungsmodul der Stadt“, das für soziale Verbindlichkeit, Identifikation und Verantwortung für den Menschen steht, und er fragt, „ob die Quartiere nicht größere politische Eigenständigkeit bekommen sollten“.

Der Geograf Olaf Schnur leitet seine Zusammenfassung der empirischen Quartiersdefinitionen zunächst mit einer Erinnerung an das völlig unspektakuläre und gerade daher biografisch relevante Viertel seiner Kindheit ein. Nach einem Parforceritt durch die Wissenschaften und einer spitzen Nebenbemerkung über die Aneignung des Begriffs „Quartier“ zu Marketingzwecken in der Immobilienwirtschaft endet er mit der salomonischen Formel „Das Quartier ist größer als ein Haushalt und kleiner als die Stadt“ (Albert Hunter), „aber hier endet auch der Konsens“ (George Galster).

Nun werden – anhand von Fallbeispielen – die sozialen, klimatischen und politischen Implikationen des Quartiers untersucht. Der in Wien emeritierte Soziologe Jens Dangschat, ein Pionier der Gentrifizierungs-Forschung, beginnt mit dem „Quartier als soziale Ressource“. In einer engagierten Rede löckt er auch einmal gegen den Stachel: „Wir müssen nicht nur Brücken bauen, sondern auch Zäune und Mauern errichten“, denn: „Die Welt ist anders, als wir sie uns vorstellen. Ich will nicht täglich sehen müssen, was mich nervt.“ Angesichts der „Gelbwesten-Proteste“ stellt er fest: „Es gibt Menschen, bei denen die Angst vor dem Ende des Monats größer ist als die vor dem Ende der Welt.“ Am Beispiel eines naiven Verkaufs-Renderings bekommt auch bei ihm die Immobilienwirtschaft Kritik ab: „Hier ist eine Szene der 35-jährigen Happy Few zu sehen, ein Hund, ein Kind, ein Cello“. Das Quartier wird vorgeführt als Gegenmodell zur Verunsicherung: klein, überschaubar, homogen. Aber was für die Einen gelungene Integration ist, sei für die Anderen die Verteidigung der eigenen Werte im Sinne einer De-Ethnisierung. Dangschat schließt seinen Beitrag ganz praktisch mit neun Stufen zur Gestaltung eines Gemeinsinn fördernden öffentlichen Raums.

Till Budde
Till Budde
Jens Dangschat

Der Quartiersmanager und Aktivist Joachim Barloschky berichtet dann anschaulich von der „Gemeinwesenarbeit“ in der Bremer Großsiedlung Tenever, die er unter Perikles‘ Motto stellt: „Wer keinen Anteil nimmt an den Dingen seiner Stadt, ist nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter.“ Tenever ist „hoch, jung und arm“, denn „die Planer haben damals die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht richtig antizipiert“. In klassischer Sozialaktivisten-Manier kämpfen er und die örtlichen Initiativen für das Menschenrecht auf Wohnen und Teilhabe. Eine Pointe am Rande: Die Bremer Stadtmusikanten werden als die „erste multikulturelle Selbsthilfegruppe“ zum Vorbild erhoben.

Anke Schmidt von der Regionale 2025 referiert die Forschungsergebnisse zur „Energieeffizienz im Quartier“ im Untersuchungsraum Ruhrgebiet vor dem Hintergrund der klimaschutzziele des Bundes. Ihr Fazit: „Das Quartier isoliert zu betrachten, funktioniert nicht.“ Illustriert wird das dann durch das Beispiel der Gemeinde Ostbevern im erweiterten Einzugsgebiet der Schwarmstadt Münster. Unter dem Motto „Der Kern wird modern“ berichten Rainer Tippkötter, Geschäftsführer der „energielenker“, und Bürgermeister Wolfgang Annen über das „Quartierskonzept Ostbevern“, für das die Gemeinde 2006 als erste in Deutschland mit dem „European Energy Award in Gold“ ausgezeichnet wurde. Infolge seines integrierten Klimaschutzkonzepts betreibt Ostbevern eine „150-prozentig regenerative Energieerzeugung“; als Energiespeicher wird dabei Wasserstoff eingesetzt – was es dem Bürgermeister ermöglichte, klimaneutral mit einem Wasserstoff-SUV in Berlin anzureisen.

Das Hamburger Gängeviertel ist ein Musterbeispiel für die „kulturelle Inbesitznahme“ eines vor dem Abriss geretteten kleinteiligen innerstädtischen Viertels. Mit dem Slogan „Komm in die Gänge!“ wurde das Gelände rekommunalisiert und in die Trägerschaft einer Genossenschaft überführt. Liz Rech und Heiko Donsbach vom Verein Gängeviertel e.V. erzählen von diesen inzwischen zehn Jahre andauernden Bemühungen, die auch Guerilla-Taktiken einschließen wie das Kapern einer offiziellen Stadtmarketing-Zeitschrift. „Die Stadt als Ort, mit dem man was macht“ sagen die Aktivisten und wehren sich zugleich dagegen, dass ihr Begriff von selbstbestimmter Kunst und Kultur mit der „Kreativwirtschaft“ verwechselt wird. Nicht ganz einfach, wenn man in der Mittagspause im Café Nasch auf die Mitarbeiter von Exxon, Facebook und Google trifft.

Schließlich der Auftritt des Umweltwissenschaftlers und Politikers Ernst Ulrich von Weizsäcker: Der 80-Jährige konstatiert, dass die Trennung zwischen dem Wohnen und der schmutzigen Industrie vor 100 Jahren durchaus ein Akt des Umweltschutzes war. „Doch nun brauchen wir Lösungen für das, wo heute der Schuh drückt.“ Und das ist keineswegs der „bezahlbare Wohnraum“, der nur ein Nebenproblem sei. Angesichts von Bränden auf der Erde, die die zehnfache Fläche Deutschlands umfassen, sei es eindeutig der Klimawandel. Der werde ein Flüchtlingsproblem verursachen, das 100 mal größer ist als das von 2015.  Lösungen sieht von Weizsäcker in dem „Budget-Ansatz“, der jedem Land anteilig zur Bevölkerungszahl ein gleiches Recht zur Nutzung der Atmosphäre zubilligt – allerdings mit der Pointe, dass die alten Industrieländer ihr Kontingent bereits aufgebraucht haben. Die Entwicklungsländer sollen zum Mitmachen gewonnen werden, indem die reichen Länder Lizenzen bei ihnen kaufen müssen: „Sie würden reicher, wenn sie Klimaschutz machen!“

Till Budde
Till Budde
Ernst Ulrich von Weizsäcker

Die heutigen Preise für Energie hält Weizsäcker für „lachhaft niedrig“. Was nichts koste, wird vergeudet. Japan habe nach der Ölkrise seine Energiepreise verdoppelt und damit eine ungeheure Steigerung der Produktivität erreicht. Die Lösung des Energieproblems sieht er in der Erzeugung von Solarenergie in sonnenreichen Ländern und deren Speicherung durch Wasserstoff bzw. Methanol. Methanol sei als Treibstoff in herkömmlichen Autos verwendbar; die Umrüstung auf Elektroautos hält der Physiker für voreilig. Schließlich gibt er auch noch einen städtebaulichen Rat: Die strahlenförmige Stadtplanung Berlins im 19. Jahrhundert müsse wieder zum Vorbild werden, weil sich damit die Mobilität am effizientesten organisieren lasse.

Derart von der globalen Perspektive wieder heruntergebrochen auf die Arbeitsebene von Architekten und Planerinnen, endet das 24. Berliner Gespräch mit der Bemerkung von Andreas Denk, das Bewusstsein im Berufsstand sei heute ein signifikant anderes als vor zehn oder 15 Jahren.

Benedikt Hotze

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