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Das Potenzial der Krise. Teil 1: Mobile Working

19. Mai 2020

Wie Corona mobiles Arbeiten und andere gesellschaftliche Wandlungsprozesse beschleunigt 

Die Lockerungen sind beschlossen, der Virus aber bleibt, mit ihm die Verhaltensregeln für Abstand und Hygiene. Sechs Wochen Lockdown im Land waren verbunden mit Entbehrungen aller Art, menschlich wie wirtschaftlich. Gleichzeitig entstand in der Arbeitswelt eine enorme Rasanz bei der Digitalisierung durch Homeoffice und Online-Videokonferenzen. Anlass für den Bund Deutscher Architekten BDA Bergisch-Land, Ideen zum Zukunftspotential der aktuellen Krisensituation genauer zu betrachten.

„Corona wird massive, dauerhafte Umwälzungen auch in Architektur, Städtebau und Gesellschaft mit sich bringen, davon bin ich überzeugt“, sagt Christof Gemeiner, Vorstandssprecher des BDA Bergisch-Land in Hilden, „da wird unsere Region keine Ausnahme machen. Die Digitalisierung erlebt bereits einen enormen Schub, Videokonferenzen werden sich zum Standard entwickeln – mit dem Effekt, dass man nicht mehr an einem bestimmten Ort persönlich präsent sein muss, um etwas zu besprechen.“

Folglich werden Reisetätigkeiten aus beruflichen Gründen abnehmen und Arbeitsmodelle wie Mobile Working zunehmen. In großen Büroneubauten wird das schon umgesetzt, dort bestimmt das Projekt den Arbeitsort. Das individuelle Einzelbüro gehört da jetzt schon der Vergangenheit an. Bereits 2014 hat der Zukunftsforscher Matthias Horx prophezeit, dass sich „die Ära des Arbeitsplatzes dem Ende neige“. Es ist davon auszugehen, dass die momentane Krise diesen Wandel beschleunigt.

Bitcom 2019
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Homeoffice – schon vor der Krise eine Option

Das starre Präsenzmodell hat sich überlebt 

Thomas Ogilvie, Personalchef der Deutschen Post vertritt eine ähnliche Position. In einem Interview in der Süddeutschen Zeitung sagt er: „Wir stellen gerade fest, wie schnell wir unsere Arbeit komplett verändern können. Das betrifft nicht nur die Möglichkeit zu Heimarbeit in der Verwaltung, sondern beispielsweise auch die digitale Mitbestimmung oder den Kundenservice. Auch der ist aus dem Home-Office möglich, und das in Teilen mit besserer Qualität und höherer Produktivität.“

„Künftig werden wir Büro-Präsenz und Heimarbeit viel besser kombinieren können und digitaler arbeiten. Die Corona-Krise wirkt hier als Katalysator und nicht als Hemmschuh. (…) Das starre Präsenzmodell hat sich überlebt, es geht um eine bedarfsgerechte Anwesenheit.“ (SZ, 12.05.2020).

Ein anderer großer Player wie z.B. der Microblogging-Dienst Twitter kündigte gerade an, dass nach den aktuellen Erfahrungen alle rund 5.000 Mitarbeiter weltweit künftig wählen können, ob sie im Büro oder von zuhause aus arbeiten wollen. „Es wird unsere Entscheidung sein, die Büros zu öffnen, wann und ob unsere Mitarbeiter zurückkommen, ist ihre“, so die Vize-Personalchefin von Twitter, Jennifer Christie. (Heise online, 13.05.2020)

Für Flexibilität muss die Infrastruktur stimmen

Nicht nur auf Konzern-Ebene wird umgedacht, auch der Mittelstand hat mit flexiblen Lösungen auf die Krise reagiert. Für Jochen Siebel, BDA Architekt und Geschäftsführer der Industrieplan Siebel GmbH in der Haaner Pumpstation ist das Thema Homeoffice nicht neu. Bereits lange vor der Corona-Krise waren einige der insgesamt rund 70 Mitarbeiter*innen für jeweils einen Tag in der Woche im Homeoffice.

Das Fazit, dass Jochen Siebel heute zieht: „Erstmal mussten Ängste überwunden und ein Rhythmus gefunden werden, mit der digitalen Kommunikationswelt umzugehen. Die Mitarbeiter*innen mussten zum Beispiel lernen, digitale Konferenzen teilweise mit mehr als 20 Personen zu leiten. Wir haben auch in die Infrastruktur investiert: Headsets, Webcams, Laptops, manchmal mit Lieferengpässen, fast immer zu rund 50% höheren Preisen als vor der Krise.“

„Was wir festgestellt haben: Wenn der Homeoffice Arbeitsplatz sowohl in technischen Hinsicht als auch in seiner sozialen Infrastruktur passt, konnten viele im Homeoffice produktiver, effizienter und schneller arbeiten. Etliche Störfaktoren fallen einfach weg. Und – die Reisekosten sind extrem gesunken, weil wir unsere Planungs- und Bürobesprechungen sowie Schulungen alle als Videokonferenzen im Chat durchführen. Die Themen werden konsequenter und schneller abgearbeitet als vorher. Aber – die soziale Komponente, das Miteinander fehlt und auch das gemeinsame Skizzieren und Entwerfen am Tisch. Mitarbeiter*innen wollen sich sehen und auch mal ein Schwätzchen halten, heute trifft man sich dazu via Skype, Zoom oder linkchat.“

Jochen Siebel hat jetzt selbst zwei gleichwertig ausgestattete Arbeitsplätze und möchte so flexibel bleiben.  Heute wird in der Alten Pumpstation Haan in Gruppen gearbeitet, die im Wechsel drei Tage zu Hause und zwei Tage vor Ort sind zum Schutz der Mitarbeiter*innen vor der Infektions- und Quarantänegefahr. Am Ende eines Monats unter Auswertung von Mitarbeiterbefragungen wird wieder neu geschaut, wie es weiter geht: „Wie läuft‘s im Homeoffice, was können wir verbessern, ändern oder anpassen an die individuellen Gegebenheiten.“

Vom Küchentisch ins Hotel – Homeoffice außer Haus

Nicht jeder wohnt so, dass er ohne Probleme Homeoffice betreiben kann: Mal stimmt die Internetverbindung nicht, die Kinder platzen ins Online-Meeting und der Küchentisch taugt nur bedingt als Computerarbeitsplatz. Wenn ein konzentriertes Arbeiten zu Hause also nicht möglich ist, weil es an der notwendigen Ruhe fehlt, um unter den ungewöhnlichen Umständen das berufliche Pensum zu bewältigen, kann ein Hotelzimmer mit schnellem Internet und WLAN ein guter Ausweichort sein. Viele Hotels halten für das mobile Arbeiten die passende Infrastruktur bereit und können dadurch eine höhere Auslastung erzielen. Deutschlandweit bieten seit der Corona-Krise bereits hunderte Beherbergungsbetriebe im Web auf entsprechenden Portalen dieses neue Angebot an, Tendenz steigend.

In einer jüngst veröffentlichten Studie des Architekten Caspar Schmitz-Morkramer zum Thema „Handel im Wandel“ geht es auch um zukünftige Arbeitsplätze. „Arbeitsplätze sollten dort geschaffen werden, wo Menschen sind, wo sie gut und schnell hinkommen können. Da der Arbeitsplatz nicht mehr an einen speziellen Tisch gebunden ist, kann das dezentral auch an ganz unterschiedlichen Orten stattfinden. Eine Herausforderung für den Wohnungsbau.“

Multioptionale Räume in Wohnanlagen

Solche Möglichkeiten bieten zum Beispiel schon jetzt neue genossenschaftliche Wohnanlagen mit Zusatzräumen, die bislang vorwiegend als Gästezimmer konzipiert waren. Selbstverständlich könnten diese Räumlichkeiten auch für Arbeitszwecke in Frage kommen. Dann wären sowohl Auslastung und Wirtschaftlichkeit erhöht, eine wesentliche Voraussetzung dafür, solche multioptionalen Räume vermehrt in Wohnanlagen mit einzuplanen.

Das Mobile Working findet also an den verschiedensten Orten statt, im Unternehmen wie oben beschrieben, im Homeoffice, in Hotels, Boardinghäusern, Mikro-Appartements oder auch in zeitlich buchbaren Räumen in Büro- und Wohnanlagen. Alle Arten des mobilen Arbeitens haben den Nebeneffekt, dass die Einhaltung des Abstandsgebotes durch räumliche und zeitliche Entflechtung besser gelingt, Maßnahmen zum Gesundheitsschutz, die sicher noch lange Gültigkeit haben werden.

Christof Gemeiner: „In der Krise haben wir gelernt, dass auch andere Arbeitsformen als die des starren Präsenzmodells gut funktionieren. Dies bietet allen Beteiligten Handlungsoptionen und eröffnet Chancen, besser und individueller auf die Bedürfnisse der einzelnen Mitarbeiter*innen einzugehen. Im Idealfall führt deren größere Zufriedenheit zu einer motivierteren Arbeitsweise – unabhängig vom Ort der Arbeit. Zukünftig wird es also einen Mix zwischen bedarfsgerechter Anwesenheit und zurückgezogener Arbeit geben.“

Die weiteren Themen der Reihe „Das Potenzial der Krise“, die in loser Folge erscheinen werden, sind:

Teil 2. Modal Split

Teil 3. Digitaler Wandel

Teil 4. Neo-Ökologie

 

Monika Medam