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Das Potenzial der Krise. Teil 4: Neo-Ökologie – was kommt nach dem Wachstum?

28. Oktober 2020

Im vierten und letzten Artikel unserer Serie „Das Potenzial der Krise“ gehen wir der Frage nach, was sich hinter dem Megatrend Neo-Ökologie verbirgt und ob die Corona-Pandemie mit ihren Auswirkungen auf das Leben weltweit auch hier die Prozesse beschleunigt.

Mit Megatrend bezeichnet man Entwicklungen, die alle Bereiche einer Gesellschaft beeinflussen: Politik, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft. Megatrends stehen immer für Wandel. Was versteht man unter Neo-Ökologie und – was ist das Neue verglichen mit Ökologie? Der Begriff „Ökologie“ wurde erstmals 1866 von dem Mediziner und Philosophen Ernst Haeckel definiert als die „Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt.“ Ein Jahrhundert später wird der Begriff politisch und emotional aufgeladen durch Bürgerinitiativen und Umweltverbände, denn es wurde zunehmend klar, dass die Wirtschaftswunderjahre erhebliche Umweltschäden und -belastungen nach sich zogen. Die Öko-Bewegung schaffte es, dass „ökologisch“ zum Synonym wurde für umweltverträglich und unbedenklich. Konsumverzicht und Abkehr von der Atompolitik waren die großen Themen der ersten Öko-Bewegung, auch der Wunsch nach biologisch angebauten Nahrungsmitteln und das Tierwohl stand schon in den 70er auf der Agenda. 1974 wurde das Bundesumweltamt gegründet.

Viele der alten Forderungen sind inzwischen selbstverständlich geworden, über 80% der Europäer trennen ihren Müll, Biokost und Naturkosmetik boomen. Und seit dem Unglück 2011 in Fukushima ist in Deutschland das Thema Atomenergie vom Tisch. Wir bauen Photovoltaikanlagen auf unsere Dächer, nutzen Energiesparlampen, kaufen in Bioläden ein und fahren mit dem Elektrofahrzeug. Und – retten wir so den Planeten? fragt die Journalistin Ina Hiester Anfang August 2020 in ihrem Artikel auf utopia.de. Wenn das alles ist, lautet die Antwort: Nein. Mittlerweile weiß man, dass eine nachhaltige Lebensweise allein wenig bringt.

„Die LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainability) wurden mit Versprechen gelockt, dass man getrost konsumieren könne, solange alles gemäß Etikett bio, lokal und nachhaltig ist. Doch das oberflächliche Versprechen der Wirtschaft, jeden auf den „grünen“ Zug aufspringen zu lassen, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als nicht immer so simpel wie gedacht. So hat der lokal angebaute Apfel des Öko-Landwirts in Brandenburg, den man in der Winterzeit kaufen möchte, durch seine hohen Kühl- und Lageraufwendungen einen ebenso großen CO2-Fußabdruck wie der Bio-Apfel aus Neuseeland, der praktisch ohne Lager direkt von der Ernte per Flugzeug nach Deutschland kommt. Der Umweltökonom Michael Bilharz vom Umweltbundesamt hat die Ökobilanz von 24 typischen LOHAS untersucht – und entdeckte eine erschreckende Wahrheit. Zwar trennten sie Müll, kauften saisonale Bioprodukte und waren gut über die ökologischen Prinzipen aufgeklärt, aber ihr aufwendiger Lebensstil, ihre großen Wohnungen, die teuren Reisen und Konsumgewohnheiten machten ihre Bilanz zunichte.“ (zukunftsinstitut, 2020).

Flexibles Wohnen in kleinen Einheiten

Es ist also eine Frage des Lebensstils und seiner Aufwändigkeit. Schaut man zurück auf die 50er Jahre waren 4 qm beheizte Wohnfläche pro Person Standard, man reiste wenig und machte Urlaub auf Balkonien oder im Schrebergarten. Heute beansprucht jeder durchschnittlich 39 qm Fläche, man verreist zwei- bis dreimal im Jahr, mit dem PKW oder dem Flugzeug. 2007 lebten schon 50% der Bevölkerung in Städten, dieser Trend wird zunehmen, 2050 werden drei von vier Personen in Städten leben. Und – jeder dritte wird über 60 Jahre alt sein und jeder zweite ein Single. Zukunftsfähig wäre eine Wohnfläche von 25-30 qm pro Person. Dafür muss es einen völlig anderen Wohnungstyp geben als wir ihn aktuell noch haben. Verzicht, in diesem Fall auf großen Wohnraum muss kein Verlust sein. Es gibt bereits Beispiele, die zeigen, dass kleine, individuelle Wohnbereiche, auf das Wesentliche reduziert, ein persönlicher Gewinn sein können, wenn im Gesamtwohnkomplex Gemeinschaftsbereiche wie Gästezimmer, Büros, Mehrzweckräume, Pflegezimmer, Gärten usw. bereit stehen, die individuell genutzt bzw. gebucht werden können. Genossenschaftliche, gemeinschaftliche oder auch nachbarschaftliche Konzepte beim Wohnen werden zunehmen. Dabei geht es nicht um das Leben in WGs, sondern um gemeinschaftliche Nutzungen und auch um Servicewohnen, das einem Hotelbetrieb sehr nahe kommt. Man kennt ähnliche Konzepte von Seniorenresidenzen, nun aber gedacht für alle Generationen. Das Hunziker-Areal in Zürich ist so ein Beispiel. Ziel war ein durchmischtes Quartier mit hoher Identifikation der Bewohner. Auf kompaktem Raum findet man Wohnen, Büro, Gewerbe, Einzelhandel, Hotel, ein kleiner Stadtteil für 1.200 Bewohner und mit 150 Arbeitsplätze.

Kurt Hoerbst
Kurt Hoerbst
nonconform/ Gemeinschaft b.r.o.t. Pressbaum

Ähnlich auch das Projekt vom Büro nonconform – Architektur und partizipative Raumentwicklung mit Sitz in Wien, die für eine Baugruppe 2018 in der Nähe von Wien eine Art Dorf entworfen hat: Zehn Häuser und ein Gemeinschaftshaus, in Holzleichtbauweise, Zellulosedämmung, Massivholzdecken, kontrollierte Wohnraumlüftung, Regenwassersystem für WC-Spülung und Stromgewinnung aus Photovoltaik. Die Gemeinschaft dort präferiert das Teilen: ein großer gemeinsamer Garten statt vieler kleiner, E-Carsharing, Fahrrad und ÖPNV statt individueller PKW, ein Staubsauger für viele statt einer für jeden… Das Projekt zeigt also, dass Reduktion und Nachhaltigkeit auch eine sozioökonomische Dimension hat.

Das Bewusstsein über die Zerbrechlichkeit unseres Planeten

90% der Deutschen halten den Ausbau erneuerbarer Energien für wichtig, aber wenn eine Windkraftanlage in der eigenen Nachbarschaft gebaut werden soll, wird schnell gegen den Bau protestiert, Tier-, Natur- und Landschaftsschützer legen ihr Veto ein. Trotzdem ist der Markt der erneuerbaren Energien einer der stärksten Wachstumsmärkte: zwischen 2010 und 2030 wächst dieser vermutlich jährlich um 8,2 Prozent. Vieles von dem ist ja schon da: „Solaranlagen schimmern im Sonnenlicht, und am Horizont drehen sich die Flügel der Windkraftanlagen. Klar absehbar ist aber auch, dass es trotz aller Energiesparbemühungen und -erfolge nicht gelingen wird, den weltweiten Primärenergiebedarf zu reduzieren. Laut BP Energy Outlook 2030 ist der globale Verbrauch an primärer Energie in den letzten zwanzig Jahren um 45 Prozent gewachsen und wird in den kommenden zwanzig Jahren um voraussichtlich erneut 39 Prozent ansteigen.“ (zukunftsinstitut, 2020)

Das ist aber relativ, in den OECD Ländern wird eine Sinken den Pro-Kopf-Verbrauchs ab 2020 um 0,3 Prozent erwartet, Schwellenländer haben einen erheblich höheren Energieverbrauch. Die Struktur von Energie- und Nahrungsmittelproduktion wird sich ändern, von großen, zentralen Unternehmungen hin zu kleinen, regionalen genossenschaftlichen Organisationen, eine Tendenz, die in unserer Netzwerkgesellschaft alle Bereiche durchdringen wird: Think global, act local.

Waren in den 70ern Ökonomie und Ökologie unversöhnliche Positionen, verbindet die Neo-Ökologie beides auf eine neu gedachte Art und Weise. Es geht nicht um ein „Zurück zum einfachen Leben“ oder um reinen Konsumverzicht. Nachhaltigkeit im Sinne von Schonen von Ressourcen oder noch besser No-Waste ist für Unternehmen nicht mehr nur gut fürs Image („Green washing“), sondern wird zum Schlüsselfaktor und Business-Konzept für das Überleben, weil Verbraucher genau dies fordern. Nur ein konsequent anderes Wirtschaften bremst den Klimawandel und sichert denjenigen eine Zukunft, die seit Ende September ihr Anliegen mit Fridays for Future nach einer Corona-bedingten Pause wieder auf der Straße zu Gehör bringen. Diese Jugendbewegung hat außer ihrem Ursprung im Bildungsbürgertum und der Bildungselite nichts gemeinsam mit der Bewegung der 68er, die für Freiheit auf die Straße ging und gegen Zwänge rebelliert hat. Fridays for Future fordert im Gegenteil Regulierungen und Verbote. Denn würden alle Menschen so leben wie Europäer oder Amerikaner, dann bräuchten wir drei Erden, um genug Ressourcen bereit zu stellen. Alles nicht neu, die Polkappen und Gletscher schmelzen, wir wissen das seit Jahrzehnten. Wissenschaftliche Information kann man ignorieren, Menschen, die auf die Straße gehen nicht. Wachstum in der kapitalistischen Wirtschaft ist ein Fetisch, von dem man sich befreien muss – und kann. Denn Wohlstand ist nicht an Wachstum gekoppelt. Wir brauchen eine neue Konsumkultur, in der es um Nachhaltigkeit und Sinn geht. Der eigene ökologische Fußabdruck wird zu einem bewussten neuen Maßstab.

Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch

Neo-Ökologie steht für grundsätzliches Umdenken in Bezug auf Ressourcen und „bezeichnet das Bewusstsein über die Zerbrechlichkeit unseres Planeten“. So poetisch formulierte es die Metropolenforscherin Jasmin Grande in der RP (09.05.2020). Da Corona viele Sicherheiten aufgelöst hat und die Reichweite von Prognosen stark verkürzt, bekommt das „Jetzt“ eine besonders starke Bedeutung.

Jetzt ist der Moment der Veränderung. Noch ein Stück weiter geht die Historikerin Luise Tremel, die zu Prozessen des Aufhörens und der Transformation forscht. Für sie ist die Corona-Krise eine Chance: Sie „ist ein Übungsfeld, um herauszufinden, wo wir uns beschränken können. Corona hat uns dazu gebracht, freiwillig damit aufzuhören, so zu leben wie bisher. Für die Klimakrise müsste etwas Ähnliches passieren. Nur waren wir bisher nie bereit, uns aus einem Gefühl der Verantwortung für das Klima so sehr zu beschränken.“ (vgl. jetzt.de, 15.05.2020)

Neo-Ökologie beschwört also nicht den Weltuntergang, sondern sucht nach effizienten und kreativen Lösungen unter Einsatz von innovativen Technologien. Es geht um die Entkopplung von Wirtschaftswachstum einerseits und Umweltverbrauch andererseits. Mit Green-IT zum Beispiel investiert ein Unternehmen nicht nur in seine eigene, sondern in unser aller Zukunft, denn in diesem Fall zahlt sich die ökonomische Investition als ökologischer Gewinn aus. „Effizient ökologisch heißt künftig, durch Messbarkeit und Technisierung höherkomplexe Systeme zu schaffen, Systemschwächen und übermäßigen Verbrauch zu reduzieren und zugleich weniger Kosten zu produzieren – spezifisch und individuell. Ein attraktives Argument für Produzenten wie Konsumenten gleichermaßen.“ (zukunftsinstitut, 2020)

Dezentralität ist auch bei der Energiegewinnung- und Verteilung ein großes Thema, sie treibt den Ausbau von Smart grids voran und fördert die autarke Energie von Gemeinden und Städten. Unternehmen, die die Dezentralität und den Energiebedarf managen, haben eine große Zukunft.

Vor allem ist Neo-Ökologie eins: ganzheitlich. Das, was zählt, ist nicht weniger der nüchterne 360 Grad Blick auf Fakten. Das bedeutet auch ein Umdenken in Architektur und Städtebau. 80% der Energie wird in den Städten verbraucht. Circa 70 Prozent des Gebäudebestands in Deutschland wurde in den Jahren 1950 bis 1980 errichtet. Diese Häuser zu Energiesparhäuser umzurüsten wird eine dringende Bauaufgabe der Zukunft sein, die neue und kreative Lösungen braucht. Die Bundesregierung verfolgt das Ziel, dass Gebäude bis 2050 klimaneutral werden und außerdem einen großen Teil der benötigten Energie selbst erzeugen. Plus-Energiehäuser sollen darüber hinaus ihren überschüssigen Strom ins Netz speisen. Es tut sich schon lange was bei Neubauten, der Blick dafür wird aber gerade jetzt geschärft. Zwei weitere Beispiele sollen exemplarisch zeigen, wohin zeitgemäße Architektur sich schon länger entwickelt. So haben z.B. Ventira Architekten aus Diepoldsau in ihrer Appartementanlage in Kappl bereits 2006 Wert gelegt auf Naturmaterialien wie Schiefer, Lärche und Filz, als Heizungssystem dient eine Erdwärmepumpe, Strom wird aus Wasserkraft gewonnen. Last but not least das Experimentalhaus (2019) in Hannover vom Architekturbüro Cityförster. Es ist komplett aus recyceltem Material herstellt, außen wie innen und hat schon mehrere Preise eingeheimst, z.B. im September 2020 den Deutschen Fassadenpreis. Das Haus ist ein Prototyp, an dem die Potenziale verschiedener Recyclingarten gezeigt werden sollen. Das einzige Neue, das bei dem Haus zum Einsatz kam, sind leimfreie Massivholzelemente, die ihrerseits später wieder recycelt werden können.

Es tut sich also bereits jede Menge, obgleich – so ganz genau weiß niemand, welche Auswirkungen auf lange Sicht Einzelmaßnahmen auf den Klimawandel haben werden. Planer müssen mit Unplanbarkeiten leben und sich von Monofunktionalitäten verabschieden. Home-Office, Urban Gardening, Mini Photovoltaik, Verkehrswende, weniger Autos, weniger Garagen, dieser Wandel im Leben und Arbeiten benötigt eine offene und flexible Architektur.

Sicher ist hingegen wie bereits zu Beginn erwähnt, der demografische Wandel. Dem alten Ehepaar auf den Land oder der alleinstehenden Frau wird der 180 qm Garten zur Last. Neues Wohnen mit Nutzungskonzepten und Service kann als Befreiung erlebt werden.

Oder wie die Schweizer Architektin Vera Gloor formuliert: „Die Gesellschaft muss lernen, zu teilen. Teilen ist ein Gewinn, kein Verlust. Gemeinschaft ist ein Gewinn, keine Bedrohung. Wenn jeder meint, ihm müsse alles gehören, kommen wir nicht weiter.“

Re-Use, reduce, recycle 

Wer spart, gewinnt, das haben die Schwaben immer schon gewusst. Die Natur, in der es keinen Abfall gibt ist Vorbild. Heute noch wirft jeder Deutsche rund 500 kg Material in die Abfalltonne, das meiste davon enthalt nutzbare Stoffe, Schätze, die gehoben werden müssen, z.B. schlummert auf Müllhalden mehr Eisen, als Deutschland in einem Jahr verbraucht. Und – mehr als die Hälfte des „Abfall“- Aufkommens besteht aus Bauschutt. Durch Upcycling werden neue Materialien entstehen, die auch wieder als Baumaterial eingesetzt werden wie das Beispiel von Cityförster zeigt. Das Ganze kann man mit Zero Waste bezeichnen oder auch Kreislaufwirtschaft nennen. IKEA ist auch auf diesen Zug aufgesprungen, nimmt seine genutzten Möbel wieder zurück, bringt sie wieder in Ordnung und verschönert sie, um sie dann als Second-Hand Ware wieder zu verkaufen. Oder Smartphone-Hersteller wie Fairphone in Amsterdam, der seit 2013 modulare und fair produzierte Handys anbietet: Ist ein Einzelteil defekt, wird nur das getauscht und nicht das komplette Gerät entsorgt. Das Unternehmen nimmt auch andere Handys zurück und zerlegt und recycelt diese, ein kleiner Beitrag, die weltweit und jährlich aufkommende Menge von 50 Millionen Elektroschrott zu reduzieren und Ressourcen zu schonen.

Ein Beispiel aus einem ganz anderen Lebensbereich ist die Bio-Brauerei Lammsbräu. Dort wird nur soviel Bier produziert und verkauft, wie die Region an Rohstoffen zur Verfügung stellt. Die Menge an regional nachhaltig angebautem Hopfen bestimmt die Biermenge, die gebraut werden kann. „Das“, sagt Daniel Anthes, Nachhaltigkeitsfood-Blogger in einem Interview 2019 auf ntv.de „ist Neo-Ökologie. Es geht nicht nur um eine Lebenseinstellung, sondern um eine neue Business-Moral.“

Monika Medam