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Nachruf auf Friedrich Kurrent

12. Januar 2022

Störer der Unordnung

Versuch zum Tod von Architekt, Univ. Prof. em. Friedrich Kurrent

Er war noch bei der Feier seines 89. Geburtstags absolut sicher, auch den 100er feiern zu können, und auch den Bau seines Herzensprojektes der letzten Jahre, eine große neue Wiener Synagoge am Platz zwischen Parlament und Palais Epstein an der Ringstraße als eine „Bringschuld der Stadt“ im Hinblick auf ihre brutale NS-Ära zu erleben.
Nun ist er nach monatelangem Siechtum, Verlust von Sprache und motorischen Fähigkeiten infolge eines Schlaganfalls in der Nacht des 9. Jänner im Wiener AKH „im Schlaf“ gestorben. – Es wurden also „nur“ 90 einmalig intensive Jahre eines außergewöhnlichen Architektenlebens, das eben viel mehr im Blick hatte als den spektakulären Rekord an großartiger, gebauter Kubatur, und das die kulturellen, sozialen, künstlerischen, ökologischen und biographischen Nährfelder für qualitätvolles Planen und Bauen und gutes LEBEN wie kaum ein anderer „mitnahm“, sie extrem offen und empathisch einbeziehen wollte und in einigen Fällen auch beispielhaft konnte.

Friedrich Kurrent war zeitlebens – und speziell in den letzten Jahrzehnten nach seiner Rückkehr nach Wien als emeritierter, charismatischer Architekturprofessor an der TU München – in der hiesigen Szene ein fast beängstigend verlässlicher, auch sich selbst bzw. mögliche eigene Interessen niemals schonender „Störer der Unordnung“. Legendär seine unzähligen Auftritte und kritischen Wortmeldungen in Veranstaltungen und öffentlichen Foren, seine zahlreichen brieflichen und konzeptuellen Eingaben an verschiedenste, vor allem öffentliche Entscheidungsträger*innen, Gremien, Interessenvertretungen – immer gegen den allzu faulen, pragmatischen Kompromiss, immer gegen die grassierende Gedankenlosigkeit, vordergründige Windschlüpfrigkeit der allermeisten baubürokratischen und bloß marktwirtschaftlich „optimierten“ Planungsprozesse, Bauvorhaben, Personalentscheidungen, Verfahrenssteuerungen, Medienereignisse.

Er würde es gewiss nicht abweisen, im Gegenteil, wenn man ihn da in die große Tradition von Karl Kraus, Adolf Loos oder Erich Fried einreiht. Wir erinnern uns, dass solche Haltung, die groß- wie kleinmaßstäbliches Planen und Bauen primär als gesellschaftlich verantwortlichen Auftrag zur allgemeinen, langfristigen Lebensqualität sieht und betreibt, ihre Motivation, ihre Wurzeln hatte in der Phase einer damals greifbaren, extrem notwendigen Neuorientierung aller Kultur in den Aufbruchsjahren einer imaginiert kosmopolitischen, humanistisch avancierten Wiener Szene nach 1945 – im Speziellen im Umfeld von Art Club, Wiener Gruppe, Lois Welzenbachers und Clemens Holzmeisters „Schulen“ an der Akademie am Schillerplatz usw. – und nochmals spezieller in der mit Johannes Spalt, Wilhelm Holzbauer und Otto Leitner damals formierten „Arbeitsgruppe 4“.

Die Wege pionierhafter Leistungen und auch Vergeblichkeiten dieses nach Leitners Ausscheiden „3/4tler“ genannten Teams, wurden vor einigen Jahren in einer vorbildlichen, auch international vielbeachteten Ausstellung und Publikation im Architekturzentrum Wien umfassend nachgezeichnet, dokumentiert, gewürdigt – akut vergegenwärtigt. Es war dann aber Kurrent allein, der ab 2001 in vier inhaltsreichen und -schweren Buchbänden, herausgegeben von Gabriele Kaiser und von seiner Verlegerin Mona Müry Leitner, dieses ganze Panorama der Bau-, Kunst-, Literatur-, Musik-, Skulptur- und Gesellschaftsentwicklung seit 1945 anhand seiner eigenen und unzähliger engstens mit ihm verknüpften freund-feindlichen Lebenslinien lebhaft und tiefenscharf ausgebreitet hat – durchaus kritisch-nachhaltig und da und dort sogar etwas selbstironisch gewürzt, für unsere Gegenwart und Zukunft vorgelegt und zugänglich gemacht hat. Allein diese vier Bände bieten ein großes, sinnstiftendes Vermächtnis des unentwegt bis zuletzt zeichnenden, entwerfenden, schreibenden, konstruktiv agitierenden, universellen Zeitgenossen.

Kurrents geistige Spannweite war enorm und sein Engagement kannte keine Scheidung in Groß- oder Kleinkünste, Alltägliches oder Exzeptionelles – es reichte von seinem wegweisenden Eintreten für die Rettung des schon dem Kahlschlag der „Assanierung“ geweihten alten Wiener Spittelbergviertels zu Beginn der 1970er Jahre, seinem Aktivismus zur Rettung des Wittgenstein-Hauses und der Otto Wagner-Stationen u.v.a.m. – bis hin zu einem genial-schockierenden Performance-Auftritt im AzW anlässlich der Debatte um die Hochhausprojekte von Wien Mitte… – und nicht zuletzt bis hin zu der singulären Verwirklichung des Museums für seine große Lebensgefährtin, die Künstlerin Maria Biljan-Bilger, in Sommerein am Leithagebirge – realisiert und belebt mit einer Gemeinschaft von gleichgesinnten Architekt*innen, Künstler*innen, Kulturinteressierten, Zeitgenoss*innen aus mehreren Lebensaltern.

Diese Arbeit ist – für mich jedenfalls – das aktuellste und wegweisendste, überregional gültige Beispiel der geistigen Botschaft des Fritz Kurrent im Umgang mit der Landschaft, mit den gegebenen Kontexten, ihren scheinbar unscheinbaren Fakten – geschaffen mit einem Minimum an materiellem Aufwand aus einem Optimum an konstruktiver, raumgebender Innovation und Gewitztheit, mit der Zentrierung aller „Arbeit“ um eine primär geistig-seelisch-humane Anwesenheit und hellwach interdependete Reflexion unserer Spezies in Natur und Kosmos.

Es ist wahr, in den letzten Jahren erreichten Fritz Kurrents notorische Einwürfe und Zurechtrückungen in öffentlichen und internen Debatten mitunter eine tragische Dringlichkeit. – Die Gesellschaft insgesamt, aber auch die sogenannte Elite, gerade in Architektur und Städtebau, zeigte sich in einer zunehmend „alternativ-losen“ Affirmation und nur mehr ökonomisch-materialistisch getriebenen Stromlinienförmigkeit – und das musste den exemplarisch Unangepassten, den geschichtlich hochgebildeten, hochsensiblen und unvergleichlich lebenserfahrenen Querkopf-Visionär, der Kurrent eben war, soweit reizen, dass manche seiner Volten sich dann auch gegen Marginalien oder gegen die Runde seiner eigenen „Parteigänger“ richtete, wenn nicht verirrte. Aber: wir waren falsch beraten, das als die Macken eines unverbesserlichen Alten und „Besserwissers“ mehr und mehr leicht abzutun und dahinter den immer dringlicheren Impetus zu übersehen, der unser aller mitlaufende Angepasstheit und Bequemlichkeit und Kurzsichtigkeit und Egozentrik erschüttern wollte und musste!

Fritz Kurrent erhielt für sein Lebenswerk 2017 eine der höchsten Auszeichnungen hierzulande – das Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich. Die Laudatio hielt – auch das symptomatisch – kein Architekt, keine Architektin, keine Direktorin einer einschlägigen Institution, sondern ein wortgewandter kritischer Bruder im Geiste, Erich Klein, Literaturwissenschafter und Kurrents Kompagnon auf der letzten, weiten Reise nach Nordamerika…
Es war eine grandiose Veranstaltung in einem angemessenen Ambiente – dem großen Kassensaal der alten Länderbank – für die Expert*innen Otto Wagners famoser Wendepunkt vom Ringstraßenbaumeister zum Pionier der Modernität.

Kurrent wird uns fehlen – je länger es weiter so hingeht, umso mehr, umso schmerzlicher werden wir das spüren.
Adieu!

Otto Kapfinger

 

Privatarchiv Prof. Michael Gaenßler