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Raum für Freiheit – Bericht vom 27. Berliner Gespräch

5. Dezember 2022

Erstmals nach drei Jahren konnte das Berliner Gespräch am 3. Dezember 2022 wieder in Präsenz im Deutschen Architektur Zentrum DAZ durchgeführt werden: „Raum für Freiheit – Zwischen Individualismus und Gemeinschaft“ war das Thema.

Till Budde
Till Budde

BDA-Präsidentin Susanne Wartzeck erläuterte zu Beginn, dass es heute um das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Raum, zwischen Individuum und Gemeinschaft gehe. Unter Verweis auf die „emotional aufgeladenen Corona-Demonstrationen mit ihren strittigen und durchaus verletzenden Debatten“ stellte sie die Frage, ob Freiheit ein individuelles Eigentumsrecht sei oder ob Kants Freiheitspostulat noch gelte, das der Dichter Matthias Claudius so umschrieb: „Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet.“ Zur Freiheit gehöre Verantwortung, weil Freiheit eben nie grenzenlos sei, sagte sie angesichts der Klimadebatte, vor deren Hintergrund das Versprechen von „Freiheit durch Wohlstand“ keine Gültigkeit mehr habe, wie es noch in der Nachkriegszeit als selbstverständlich empfunden wurde. Sie kündigte für den folgenden Diskurs zwei historisch-philosophische Beiträge an, zwei zum öffentlichen Raum und zwei zum Wohnen.

Den Anfang machte der Philosoph Jean-Pierre Wils, der zunächst mit gängigen Missverständnissen des Freiheitsbegriffs aufräumte. Auch er bezog sich auf die Corona-Debatten und prägte das Bonmot von den dort zu beobachteten „seltsamen Koalitionen zwischen Heilpraktikern und Sieg-Heil-Praktikern“. Dass der Mensch „von Natur aus frei“ sei, hält er für ein naturalistisches Missverständnis. Die Freiheit müsse vielmehr auf einem mühsamen Weg erlangt werden. Dass die Optionsvielfalt nicht eingeschränkt werden dürfe, hält er für falsch, denn „je mehr verpasste Optionen, desto stärker das Bewusstsein für verpasste Möglichkeiten“ – und „wir gehen doch hungrig nach Hause“. Also plädierte er für einen „kooperativen Freiheitsbegriff“ – Freiheit als Resultat der Verschlankung unserer Lebensweise: „Das Wenige und das Wesentliche müssen übereinstimmen!“

Der Historiker und Journalist Matthias von Hellfeld lieferte einen Parforceritt durch die Geschichte des Freiheitsbegriffs aus dem europäischen Blick, angefangen bei den alten Griechen, deren verschriftlichten und veröffentlichten Gesetze erstmals einen Schutz des Individuums vor Willkür geboten hätten – was bis zum heutigen freiheitlichen Rechtsstaat des Grundgesetzes gelte. Nach Luthers „Freiheit eines Christenmenschen“ streifte er Kant und die Aufklärung, den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Über Rousseau, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die Französische Revolution und die Paulskirchen-Verfassung endete er mit Sophie Scholls Definition von „Freiheit als höchstem Gut“.

Die online zugeschaltete Verkehrswissenschaftlerin Julia Jarass berichtete unter dem Titel „Freie Fahrt – das Recht auf ein Leben ohne Auto“ von wissenschaftlich begleiteten, temporären Aktionen zur Verkehrsberuhigung. In der Auswertung hätten sich die Werte von Akzeptanz und Ablehnung etwa die Waage gehalten – was Moderator Thomas Welter in der folgenden Diskussion als wenig überraschend bezeichnete.

Am Nachmittag kam der umtriebige niederländische Stadtplaner Martin Aarts zu Wort. Er berichtete aus Rotterdam, Paris und anderen Städten über erfolgreiche Umwidmungen des Verkehrsraums und fragte provokativ, wovor Berlin diesbezüglich eigentlich Angst habe. Auch in Paris seien 40 Prozent der Bevölkerung dagegen – man müsse aber den 40 Prozent Befürwortern eine Chance geben. Mit Verweis auf Saskia Sassen erinnerte er an die Herausforderungen der wirtschaftlichen Konkurrenz der Städte untereinander: „Städte verlieren an Bedeutung, wenn sie sich nicht weiterentwickeln!“ Sein Sohn habe sich für Kopenhagen als Lebensort entschieden: „Dort wird unser neuer Lebensstil durch einen Systemwechsel im öffentlichen Raum unterstützt.“

Die Architektin und Kriminologin Andrea Seelich führte das Publikum dann an eine recht abseitige Bauaufgabe heran. Als sie zu Beginn fragte, wer schon einmal ein Gefängnis von innen gesehen habe, gingen jedenfalls nur sehr wenige Hände hoch. Seelich hat ihrem bisherigen Berufsleben 125 Justizvollzuganstalten analysiert. Für die Interaktion zwischen Menschen und Architektur sei der Strafvollzug genauso geeignet wie der Städtebau. Die Aufgabe der Architektur sei hier, den Vollzugsalltag so zu gestalten, dass die Gefangenen „nicht durchdrehen“. Sie erläuterte Architektenmissverständnisse, die beim Design stehenbleiben, und zeigte Positivbeispiele. Seelich schloss mit der Feststellung: „Ich habe es im Gefängnis mit Leuten zu tun, die Freiheit schätzen“ – und setzte nach: „Deswegen fühle ich mich dort wohl.“

Für einen emotionalen Höhepunkt sorgte die Münchener Architektin Reem Almannai. Sie ist an der genossenschaftlichen „Kooperative Großstadt“ beteiligt, die das preisgekrönte Wohnprojekt San Riemo initiiert hat. Zunächst spießte sie provokant den immer weiter steigenden Wohnflächenverbrauch auf und rechnete vor, dass in Deutschland ohne Neubau Wohnraum für weitere 44 Millionen Menschen geschaffen werden könnte, wenn jede Person sich auf den Wert von 31,5 Quadratmetern nach Förderrichtlinie beschränken würde. Mit einer „Philosophie des Teilens und Umdenkens“ müsse das Vorhandene anders genutzt werden. Dazu brauche es lediglich ein „Wohnflächengesetz“ analog zum Tempolimit im Straßenverkehr. Sie erläuterte dann das Konzept des „Nukleuswohnens“ nach dem Prinzip des „atmenden Hauses“. Nukleuswohnen sei die individualisierteste Form der gemeinschaftlichen Wohnmodelle und erlaube das Zu- und Abschalten von Individualräumen zu einem jeweiligen Kern (Nukleus) aus Wohnen und Kochen. Erläutert wurde das am Beispiel des erwähnten San Riemo. Auf den naheliegenden Einwand, San Riemo sei aber ein Neubau, antwortete sie mit der Feststellung, dass es der Genossenschaft bisher an Eigenkapital gemangelt habe, Bestandsobjekte zu erwerben. An den Berufsstand richtete sie schließlich Forderungen: Ausstieg aus zweifelhaften Auftragsverhältnissen! Auch nicht ganz legale Experimente wagen! Abschied vom Perfektionismus! Und schließlich: Keine Märchen mehr!

Moderator Thomas Welter ließ diesen „fulminanten Abschluss“ so stehen und verzichtete darauf, ein Fazit zusammenzufassen. Stattdessen erinnerte er an den verstorbenen Andreas Denk. Er, der „freie Radikale“, hätte an diesem Berliner Gespräch seine Freude gehabt.

Benedikt Hotze