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Sorgetragen als Kulturpraxis | Ausstellung „Sorge um den Bestand“ in Koblenz

5. April 2023

Die Zahlen, die wir in den letzten Jahren vorgelegt bekommen haben, sind beeindruckend. So hat der UN Bericht „Global Status Report for Buildings and Construction“ belegt, dass 36 Prozent des weltweiten Energiebedarfs und 37 Prozent der globalen Kohlendioxid-Emissionen auf das Konto der Bau- und Gebäudewirtschaft gehen. Bezogen auf Deutschland wissen wir dank des Umweltbundesamts, dass hierzulande jedes Jahr 230 Millionen Tonnen Bau- und Abbruchabfälle entstehen. Das entspricht 55 Prozent des gesamten deutschen Abfalls. Der aktuelle Emissionsbericht des Umweltbundesamts konstatiert außerdem: Deutschland ist nicht auf Kurs, seine Klimaschutzziele zu erreichen. Der Gebäudesektor hat zum zweiten Mal in Folge sein Emissionsminderungsziel verfehlt. Um das Sektorenziel 2030 zu erreichen, ist eine jährliche Minderung von Treibhausgasemissionen um 5,5 Millionen Tonnen nötig. Das ist mehr als das Doppelte des derzeit erreichten Werts. Apropos doppelt so viel: Wir wissen um die verheerenden Einflüsse des Fliegens auf die Emissionen von Kohlendioxid, weltweit wird allerdings allein durch die Herstellung von Beton mehr als doppelt soviel des klimaschädlichen Gases aktiviert, wie durch Flugreisen.

Die logische Schlussfolgerung für Architektur und Städtebau ist eine Hinwendung zur bereits gebauten Substanz in Stadt und Land. Umbau statt Neubau, pflegen statt abreißen. Seit dem 31. März läuft nun die Ausstellung „Sorge um den Bestand“ in der Citykirche Koblenz. Die von Laura Holzberg, Olaf Bahner und Matthias Böttger für den Bund Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) kuratierte Schau geht dabei von der Idee des Sorgetragens aus, das sich nicht nur auf ein abstraktes Phänomen beschränkt, sondern mit konkreter Verantwortungsübernahme einher geht. Zehn Architekt_innen hat das kuratorische Team zusammengebracht, die für die Ausstellung Strategien wie den Einsatz zirkulärer Materialien in der Konstruktion oder funktionale Offenheit für kommende Anforderungen an Gebäude erarbeitet und in mitunter recht künstlerische Arbeiten überführt haben.

Foto: Sarah Reuther | Fotostudio Reuther Koblenz
Foto: Sarah Reuther | Fotostudio Reuther Koblenz

In Koblenz wird die Schau in Kooperation mit dem „Schaufenster Baukultur Koblenz“, der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz und der Pfarreiengemeinschaft Koblenz-Innenstadt gezeigt, die sich dem Thema jeweils mit eigenen Formaten annehmen und somit dafür Sorge tragen, die multikomplexe Gemengelage in die Breite der Gesellschaft zu tragen.

Allein der Ausstellungsort ist gut gewählt, gab er doch bereits zur Zeit seiner Entstehung Anlass zur Diskussion über Gebäudeerhalt. Mitten in der Koblenzer Altstadt gelegen, war der nach den Luftangriffen auf die Stadt 1944 weitestgehend zerstörte Bau der Jesuitenkirche zwar wiederaufbaufähig, wurde nach langer Diskussion zwischen 1958 und 1959 dennoch durch einen Neubau ersetzt. Der verantwortliche Architekt Gottfried Böhm übernahm für seinen Entwurf jedoch nicht nur die Grundstruktur der alten Jesuitenkirche, sondern auch die barocke Sakristei und die zum Jesuitenplatz gelegene Westfassade. Zum Platz wirkt der damalige Neubau so wie ein Altbau. Räumlich stellt die Ausstellung für diesen bis heute beeindruckenden Kirchenraum der Nachkriegsmoderne eine beachtliche Intervention dar. Monika Kilian, die das Projekt Citykirche als kommunikativen Ort mit „offener Tür“ verantwortlich leitet, bekannte in ihrer Begrüßung auch, dass die Ausstellung „zum einen Herausforderung“ sei, zum anderen dankte sie dem BDA aber auch für das „Zutrauen, die damit verbundenen Inhalte in diesem Haus zu vermitteln“. Für sie, so die seit 2007 im Citypastoral der Pfarrgemeinschaft Koblenz-Innenstadt Dreifaltigkeit tätige Theologin, sei die „Sorge um einen achtsamen Umgang mit dem Bestand“ verbunden mit einem möglichst offenen Dialog, „nicht nur, aber auch in der Architektur“ Teil der alltäglichen Arbeit.

Susanne Wartzeck, Präsidentin des BDA, und Tobias Schneberger, Vorsitzender des BDA Rheinland-Pfalz, spielten sich anschließend die argumentativen Bälle im Doppelpass zu. Wo Wartzeck betonte, dass der Ort auch deswegen prädestiniert für die Ausstellung sei, weil es gelte „aus der eigenen Blase“ herauszukommen und eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, als nur immer wieder im Fachdiskurs zu verharren, unterstrich Schneberger, dass zu dieser Öffnung auch die Selbstreflexion gehöre, und manches, was er selbst noch vor sieben Jahren gebaut habe, „heute sicher nicht mehr so“ gemacht würde. Susanne Wartzeck wies auf das Anliegen der Ausstellung hin, mit dieser Strategiesammlung die Bestandspflege „als echte Alternative zum Neubau“ öffentlich zu verankern und Schneeberger schlug den Bogen zur lokalen Relevanz des Themas in Rheinland-Pfalz.

Peter Thomé, Leiter des interdisziplinären Lehr- und Forschungsgebiets „Strategien Ländlicher Räume“ an der Hochschule Koblenz, nahm diesen Faden auf und verwob ihn eindrücklich mit den Orten und Themen der Region. Mit Blick auf die katastrophale Flut im Ahrtal sagte er: „Der Bausektor ist ein Waste-Sektor: 250.000 Tonnen Müll, 50.000 Tonnen kontaminierte Schlamm sind Teil und Ergebnis unseres Handelns.“ Doch nicht nur die Frage nach den Hinterlassenschaften der Bautätigkeit trieben Thomé in seinem Impulsvortrag um, auch die konkret gebauten Ergebnisse an Ahr, Mosel und Rhein. Der tatsächliche Flächenverbrauch in Rheinland-Pfalz nämlich liege bei 8,6 Hektar am Tag, was einer Fläche von 86.000 Quadratmetern entspricht. Im Vierjahresmittel habe er sich allein zwischen 2012 und 2021 mehr als vervierfacht. So sei vor verschiedenen Hintergründen geboten, sich der zahlreichen leerstehenden Gebäude im Land anzunehmen. Nicht zuletzt, weil sie neben der grauen auch immer soziale Energie in sich tragen, wie Thomé am Beispiel der abrissgefährdeten Kirche St. Andreas in Ahrbrück deutlich machte, die nach der Flut zum Treffpunkt der Gemeinde und Ort des gemeinschaftlichen Miteinanders jenseits des sonntäglichen Gottesdienstes geworden ist.

Und so war auch in der anschließenden, von Marcus Rommel, Architekt BDA aus Stuttgart und Professor an der Hochschule Augsburg, geleiteten Diskussion mit Heike Otto und Joachim Rind Konsens, dass das Sorgetragen für den Bestand auf vielen Ebenen schlicht das Gebot der Zeit war. Heike Otto, Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, machte deutlich, dass der Denkmalschutz dabei inzwischen kein Bremsklotz mehr sei, sondern als proaktiver Teil die energetische und soziale Ertüchtigung des Bestehenden begleite. Joachim Rind, Präsident der hiesigen Architektenkammer, spannte den Bogen von der Notwendigkeit der Überwindung sektoraler Trennung der Betrachtungsebene unserer gebauten Umwelt bis hin zu den systemischen Zusammenhängen sozialer Ungerechtigkeit und kapitalistischen Wirtschaftens.

Zum Abschluss führte Laura Holzberg durch die von ihr mitkuratierte Ausstellung und stellte ausgewählte Thesen vor. Für die Verständlichkeit der räumlich schönen, aber nicht auf den ersten Blick selbsterklärenden Installation war das für den Abend selbst ebenso ein Zugewinn wie der im Jovis-Verlag vorgelegte Katalog zur Ausstellung. Als Teil dieser Vermittlungsebene ist die Publikation ebenso in der Ausstellung erhältlich, wie die kommentierten Führungen, die während der gesamten Ausstellungsdauer stattfinden werden.

Bemerkenswert dabei auch: der regionale Beitrag zur Ausstellung. Unter dem Titel „Verschenkte Potenziale“ haben die Trierer Architektin Iris Willems-Bender und Tobias Schneberger den rheinland-pfälzischen Gebäudebestand anschaulich als Möglichkeitsraum in Szene gesetzt. Eine vom Büro Formrausch umgesetzte Videoinstallation illustriert das Potenzial an Gebautem, das durch Abriss oder Nutzungsänderung als sogenannter „Bauabgang“ vom Statistischen Landesamt erfasst wird, aber dauerhaft verloren geht. Begleitet wird die feine Installation von einem Plakat, dass die eindrücklichen Zahlen zur Flächeninanspruchnahme noch einmal zusammenführt und in Zusammenhang mit der vermehrten Anwendung des Paragraphen 13b des Bau-Gesetzbuchs setzt: Offenkundig machen vor allem kleinere Gemeinden häufig von ihrer durch den Gesetzestext eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, leichter Bauland auszuweisen. Auf einer die Präsentation umgebenden Plakatwand werden sukzessive Pressemeldungen zum Thema aus den regionalen Medien gesammelt.

So trägt die durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat finanziell geförderte Ausstellung als Projekt im Forschungsprogramm „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen und des BBSR nicht nur die Anliegen des BDA in die Breite, sondern verknüpft dieses durch das Engagement vor Ort und die Kooperationspartner_innen geschickt mit den konkreten Themen des Bundeslandes. Das Sorgetragen ist damit nicht nur ein zeitgenössischer Titel, sondern wird tatsächliche kulturelle Praxis.

David Kasparek

Sorge um den Bestand Ausstellung bis 02. Mai 2023

Citykirche Koblenz
Jesuitenplatz
56068 Koblenz

täglich 9.00–19.00 Uhr
ausgenommen sind Gebetszeiten
12.00 – 13.00 Uhr sowie 17.30 – 18.00 Uhr

 

Im Rahmen der Ausstellung „Sorge um den Bestand“ findet ein umfängliches Rahmenprogramm statt:

Moderierte Ausstellungsrundgänge
Mittwoch 12./19./26. April 2023, 14.00 Uhr
Donnerstag 13./20. April 2023, 18.30 Uhr
Dienstag 18. April 2023, 18.30 Uhr

Intermezzi
Musikalisch-lyrisch-räumliche Interpretationen
Mittwoch, 12./19./26. April 2023,
jeweils 13.30–14.00 Uhr
mit Ausstellungsrundgang im Anschluss

Unesco Welt[Leer]Erbe Mittelrheintal
Reallabor Mittelrheintal: Umgang mit Leerräumen
in Kaub, Rhens, Spay und St. Goarhausen
Mittwoch, 19. April 2023, 18.30 Uhr

11. BDA-Gespräch
Rheinland-pfälzische Positionen für den Bestand und gegen den Abriss
Dienstag, 02. Mai, 18.30 Uhr

Kooperationsausstellung
Zeitzeugen aus Stein. Fotografien von Axel Thünker
28. April bis 11. Juni 2023
Sonderausstellung zum 25-jährigen Jubiläum von Burgen Schlösser Altertümer Rheinland-Pfalz
Ausstellungseröffnung am 28. April 2023, 18.30 Uhr
Lange Linie der Festung Ehrenbreitstein

Weitere Informationen finden Sie unter
https://www.bda-bund.de/sorgeumdenbestand/

Kooperationspartnerschaft