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Interpretationsräume – Inken Baller und Hinrich Baller im Gespräch mit Elina Potratz

28. August 2023

Für die Festschrift „Großer BDA-Preis 2023“ hat Elina Potratz, Chefredakteurin Die Architekt, im Juni 2023 ein Interview mit Inken Baller und Hinrich Baller geführt. Die Festschrift erscheint am 15. September 2023 anlässlich der Preisverleihung in Köln. Wir dokumentieren das Interview hier.

Till Budde
Till Budde

Elina Potratz: Ich würde gerne unser Gespräch mit Ihren Anfängen im Berlin der späten 1960er-Jahre beginnen lassen. Wie haben Sie diese Zeit empfunden, was hat das für Ihren gemeinsamen Berufsstart bedeutet?

Hinrich Baller: Ich war damals Assistent an der TU Berlin, das war für damalige Verhältnisse nicht das gleiche wie ein Hochschullehrer, aber doch eine Menge. Ich hatte eine Studentin, Inken, und ich fand sie toll. Sie war irgendwie so nordisch und ganz anders als alle anderen… Ich hatte damals den Auftrag, für einen Kollegen meiner Schwester in der Schweiz ein kleines Häuschen zu bauen, das haben wir gemeinsam sehr ernst genommen. Inken übernahm dort die Bauleitung. Später übernahm sie sogar eine Zeitlang die Leitung der örtlichen Baufirma, das war ja das Beste überhaupt… (lacht)

Wie kam es denn dazu?

Inken Baller: Der Leiter der kleinen Baufirma war für mehrere Wochen zum Militär eingezogen worden, und das fiel genau in die Bauzeit unseres Projekts. Er war völlig verzweifelt und konnte es nicht abwenden, sodass wir uns einigten, dass ich für diese Zeit seine zwei anderen Baustellen ebenfalls übernehme – somit leitete ich sozusagen sechs Wochen lang seine Baufirma. Meine beste Voraussetzung dafür war eigentlich, dass ich vor dem Studium ein halbjähriges Praktikum auf dem Bau gemacht hatte, sowohl bei den Maurern, als auch bei den Zimmerleuten. Von der Hochschule her hatte ich natürlich überhaupt keine Praxiserfahrung, so hatte ich manche schlaflose Nacht in der Schweiz

H.B.: Die Bauleitung für ein Einfamilienhaus konnte damals auch in der Schweiz natürlich nicht eine Studentin übernehmen. Ich war nahezu wöchentlich mehrere Tage vor Ort und engagiert. Mein Motorrad stand am Flughafen Stuttgart und ich konnte in gut drei Stunden vor Ort sein aus Berlin. Später habe ich bei einem Autotrödler in Berlin einen sehr gut erhaltenen VW Karmann Ghia erworben, den ich zwar mangels Führerschein nicht fahren konnte, aber ich übergab ihn Inken bei einem Berlin-Besuch mit allen Unterlagen, und von da an war sie als junge Frau mit Karmann Ghia etabliert. Inken hat uns in der Schweiz viele Fahrten ermöglicht und uns beiden viele schöne Stunden bereitet. Als Familienkutsche mit zwei Kindern hat der Karmann in Berlin noch viele Tage bereichert.

Till Budde
Till Budde

Wie muss man sich die Atmosphäre im Dunstkreis der Architekturfakultät der TU Berlin zu dieser Zeit vorstellen?

I.B.: Die andere Seite der 1960er-Jahre war der Bruch sowohl in der Hochschule wie auch in der Art und Weise, wie man mit Vergangenheit und mit Umbau umgeht. Es gab in dieser Zeit eine entscheidende Ausstellung mit dem Titel „Diagnose“ an der TU Berlin, bei der Hinrich eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Dort wurden viele Themen, die eigentlich bis heute noch aktuell sind – wie zum Beispiel mehr Transparenz in der Baupolitik, Beteiligung der Betroffenen, eine andere Bodenpolitik, Kritik an den peripheren Großsiedlungen und parallelen innerstädtischen Flächensanierungen –, angesprochen. Zudem spielte damals die Hochschulreform eine große Rolle, wir haben dadurch stärker in gemeinsamen Projekten und nicht mehr nur allein an Einzelprojekten gearbeitet. Auch abseits davon wurden die Hierarchien stark abgebaut. Professor Bernhard Hermkes, bei dem Hinrich Assistent war, war sehr offen für diese Entwicklungen.

Hat der damals herrschende Geist des Aufbruchs Einfluss auf Sie gehabt?

H.B.: Natürlich war ich allem aufgeschlossen, was neu war, aber das waren viele – das würde ich jetzt nicht zu sehr mit mir verbinden. Inken gehörte für mich damals schon zur nächsten Generation, also zu den Jüngeren, die noch studierten, während ich zu denen gehörte, die schon Assistenten waren und sich über ganz Deutschland hinweg untereinander kannten und auch in Kontakt waren.

I.B.: Wir jungen Leute waren natürlich nicht in den alten Netzwerken unterwegs. So waren es Zufälle, durch die wir an erste Bauten kamen – über Freunde und Verwandte. Eines der ersten Projekte war dann gemeinsam mit Gisela Schmidt-Krayer ein Wohnungsbau in Berghausen im Oberbergischen. Das war auch der erste Bau, der in der Bauwelt publiziert wurde. Dann erhielt plötzlich ein anderes Projekt von uns und Gisela in der Achenbachstraße in Düsseldorf einen Preis – das war ein ziemlicher Zufall, weil die Arbeit gar nicht eingereicht war, aber die Jury war bei einer Begehung an unserem Projekt vorbeigekommen und hatte es spontan auserkoren.

Inwiefern hat sich das auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

I.B.: Es hat uns einen kleinen Schub verschafft und uns hier in Berlin etwas bekannter gemacht. Damals war das Schweizer Büro Atelier 5 mit seinem verdichteten Wohnungsbau sehr aktuell. Und auch wir haben bei unserem Wohngebäude in Berghausen an einem Hang-Grundstück solche Terrassenhäuser als verdichteten Wohnungsbau entworfen. Das war für damalige Verhältnisse, wahrscheinlich auch für den Ort, etwas zu ungewöhnlich. So wurde dann auch nur der erste Bauteil realisiert. Heute jedoch ist es sehr belebt und wirklich in einem sehr guten Zustand. Diese Verdichtung der Einfamilienhausgebiete würde man sich heute viel mehr wünschen. Schon damals gab es das Anliegen: keine Zersiedelung, hohe Verdichtung und die Landschaft rundherum intakt lassen…

Till Budde
Till Budde

Wir machen jetzt einen zeitlichen Sprung: Sie haben sehr viel im Bereich des sozialen und öffentlich geförderten Wohnungsbaus umgesetzt. War das eine bewusste Entscheidung?

H.B.: Nein, bewusst entscheiden konnten wir das so nicht. Und die Auftraggeber waren „nur“ klassische Bauherren, und das zum Teil glashart… Wir haben sie immer Abschreiber genannt – sie lebten davon, Steuern abzuschreiben und diese Grundstücke letzten Endes als fertige Wohnhäuser wieder zu verkloppen, zu beleihen oder weiß der Himmel was.

I.B.: Es war sozialer, geförderter Wohnungsbau. Aber Berlin hatte im Vergleich zur BRD zusätzliche Abschreibungsmöglichkeiten, zum Beispiel statt der üblichen zwei Prozent innerhalb der ersten vier Jahre 14 Prozent und in den nachfolgenden zehn Jahren vier Prozent. Das führte dazu, dass hier relativ viele Investoren tätig waren. Der eigentliche Hintergrund aber war, dass man den Wohnungsbau in Berlin ankurbeln wollte.

Wie kamen Sie mit diesen „Abschreibern“ zurecht?

H.B.: Wir waren hoch im Kurs, weil unsere Häuser als sofort vermietbar galten. Sie haben keinen Tag leer gestanden.

I.B.: Auch damals schon waren die Bodenpreise ein entscheidender Punkt. Wir erreichten immer, dass wir möglichst viel vermietbare Quadratmeter auf einem Grundstück realisieren konnten. Das war natürlich ein gewichtiger Punkt für  Investoren.

Sie haben bereits die spezifischen Berliner Bedingungen der damaligen Zeit angesprochen. Hat die Insel-Stellung von Berlin eine Rolle für Ihre Arbeit gespielt?

H.B.: West-Berlin wurde von der Politik und den Parteien mit ganz besonderen Augen angeschaut. Außerdem war Berlin immer Aushängeschild: Wenn es in Berlin klappt, dann klappt es auch im Bund …

I.B.: West-Berlin, das merkte man natürlich auch nach 1989 besonders, hing ökonomisch ganz stark an der Bundesrepublik. Es gab hier sehr viele Subventionen, und diese wurden auch ausgenutzt. Nach der Wiedervereinigung wurde das alles zum großen Teil wieder gekappt. Darauf folgten sehr schwierige Jahre für Berlin, die schließlich zum unseligen Entschluss führten, den Großteil der Sozialwohnungen zu verkaufen.

Es waren also prinzipiell günstige Bedingungen für Ihr junges Architekturbüro?

I.B.: Ja. Aber es gab damals die Kostenmiete, die man nicht überschreiten durfte. Diese errechnete sich aus allen Baukosten, einschließlich der Finanzierungskosten, die damals – es war ja noch Hochzinszeit – sehr hoch waren. Unsere Aufgabe war zum einen, diese Kostenmiete nicht zu überschreiten, zum anderen aber, daraus ein Maximum an Wohnwert zu erzielen. Das war auch ein bisschen „Schmuggelware“. Den Investoren kam es aber insofern zugute, als die Wohnungen sofort vermietet werden konnten und nicht leer standen.

Das Stichwort „Wohnwert“ würde ich gerne aufgreifen: Was für eine Art von Wohnen und Leben haben Sie sich für Ihre Wohnungen vorgestellt und gewünscht?

H.B.: Ganz pragmatisch: Ein Leben, wie wir es auch selbst leben wollten, und auch heute noch leben. Dass man das gesamte Leben erlebt, egal, wo man sich aufhält. Also nicht diese abgeschlossenen Kästchen, sondern beispielsweise Wohnküchen, die dementsprechend so organisiert sein sollten, dass die in der Küche tätige Person nicht mit dem Rücken zum Raum steht.

I.B.: Diese Art von Küchen kommen ja aus dem alten Dienstboten-Modell. In einfacheren Familien gab es früher schon eine große Wohnküche…

H.B.: …und die Kombination von Küche und Wohnraum, und das kann bis zu einer Landschaft führen, die man auch Wohnlandschaft nennen kann. Aber das sind alles keine besonders originellen Begriffe. Das Originelle daran ist nur, dass wir es gemacht haben. Dass wir es unter den Bedingungen, die wir vorgefunden haben, auch haben realisieren können. Das nämlich ist die große Kunst gewesen, die man überhaupt nicht sieht. Denn wir mussten zusehen, dass wir mit der Kostenmiete klarkommen, sonst hätte sich das ganze Ideelle gar nicht entfalten können. Das, was in den Vorschriften stand, wurde von uns idealisiert oder verschönert.

Sie hatten bei Ihren Projekten also grundsätzlich keine anderen Voraussetzungen als andere Architekturbüros?

H.B.: Wir haben genauso die Vorschriften eingehalten wie jede der anderen blöden Kisten hier.

I.B.: Wir mussten für jeden Wohnungsgrundriss den für den sozialen Wohnungsbau notwendigen Möblierungsnachweis erbringen, auch wenn wir ganz andere Arten von Räumen entwarfen. Unser Vorbild war der Berliner Altbaubestand mit seiner Durchgängigkeit, Durchlässigkeit und Weiträumigkeit – den haben wir sehr genau studiert. Natürlich konnten wir das nicht mit den hohen Decken und diesen vielen Quadratmetern erreichen, aber wir haben versucht, es in reduzierter Form zu schaffen.

Welche gängigen Vorstellungen von Wohnen haben Sie denn besonders gestört? Was wollten Sie infrage stellen?

H.B.: Alles, was irgendwie rückständig und Muff von tausend Jahren war…

I.B.: …oder: was nicht veränderbar, adaptierbar war. Während der sechziger und siebziger Jahre wurde das Märkische Viertel gebaut. Dort gab es sogenannte halbe Zimmer für die Kinder, die sieben oder acht Quadratmeter groß waren. Das ist eigentlich nicht zumutbar, vor allem langfristig nicht. Außerdem war faktisch jeder Raum in der Plattenbauweise umstellt von tragenden Wänden, sodass man auch später kaum etwas verändern konnte. Die extrem hohe Funktionalisierung lässt kaum noch Interpretationsräume zu.

H.B.: Es waren aber auch falsche Interpretationen vom Leben. Weil das Leben gar nicht mehr so war, wie es dort in den Regeln und Vorschriften stand. Das klassische Elternschlafzimmer war zum Beispiel fast immer der größte Raum, obwohl man ihn nur zum Schlafen brauchte. Das ist natürlich eine Fehlinvestition, denn vielleicht braucht man irgendwann im Leben einfach für etwas anderes eine große Fläche – zum Beispiel, weil jemand Tänzerin ist oder auch nur sein möchte, oder eine Werkstatt einrichten will. Dazu braucht man Platz, und je kleiner die Zimmer sind, umso weniger kann man Gegenstände herumstellen. Dieses Flexible zu übersetzen, dieses Immer-wieder-anders-leben-Wollen, war letztlich das Ziel: All das sollten unsere offenen Raumzonen anbieten.

Worauf mussten Sie dafür verzichten?

I.B.: Das bedeutete eine Minimierung von Verkehrsflächen, es gab daher keine abgeschlossenen Flure. Denn gleichzeitig durften wir ja die im sozialen Wohnungsbau vorgeschriebenen Wohnflächen nicht überschreiten.

H.B.: So kam man schon fast automatisch auf den Gedanken, die Räume ineinanderfließen zu lassen, denn wie soll man sonst großflächige Räume hinbekommen? Sie können all unsere Wohnungen anschauen – in jeder kann man Musik machen oder sonst etwas – das ist alles kein Problem, man muss nur ein bisschen herumschieben. Das war unser Wunsch – nicht irgendwelche originellen Wohnvorstellungen.

Till Budde
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Wer oder was waren die größten Einflüsse auf Ihr Schaffen?

H.B.: Wir haben natürlich jede Silbe von Hans Scharoun und von Hugo Häring studiert, das war völlig selbstverständlich.

I.B.: Oder ältere Architekten: Gaudí zum Beispiel und seine Casa Mila, die aufgrund ihrer Baustruktur sehr flexibel ist und heute ganz anders genutzt werden kann, auch wenn sie von 1900 ist. Mit den unterschiedlichen Treppenhäusern konnten diese großen Wohnungen in kleinere unterteilt werden. Das ist eine langfristige Flexibilität, die ebenso ökonomisch wie ökologisch ist. Das war in der strengen Funktionalisierung des Massenwohnungsbau der sechziger und siebziger Jahre vollständig verloren gegangen.

Welche Methoden haben Sie im Einzelnen angewendet, um Qualitäten in Ihre Gebäude einzuschmuggeln?

I.B.: Im Wesentlichen war es die Reduzierung der tragenden Wände innerhalb des Wohnungsgrundrisses. Es war ein weitgehendes Skelettieren mit einem nur geringen Anteil von tragenden Wänden, meistens Wohnungstrennwände und Treppenhauswände, die bereits aus brandschutztechnischen Gründen tragende Wände sein mussten. Wir haben immer relativ methodisch den Faktor zwischen Außenwand und Volumen berechnet. Denn gerade dieses Verhältnis Außenwand zu Volumen hat einen starken Einfluss auf die Kosten, aber auch auf die Ökologie. Das haben wir schon in den siebziger Jahren sehr penibel untersucht.

Wie wichtig war es dabei, bis ins Detail zu gehen?

H.B.: Man muss bis ins Detail gehen – anders geht es nicht.

I.B.: Ein anderer Punkt ist die Typisierung. Heute wird Typisierung schnell in diesen großen Kisten gedacht, was sehr gefährlich ist, weil das einfach keinerlei Flexibilität zulässt. Typisierung lässt sich jedoch sehr gut in kleineren Teilen umsetzen. Zum Beispiel gibt es beim Fraenkelufer viele typisierte Elemente: Fenster, Geländer und Stützen sind alle in Serie hergestellt worden.

Haben Sie Ihre Arbeit als Architektin, als Architekt, als politisch empfunden?

H.B.: Ja! Wir haben uns schon im Studium politisch gebildet, Inken war Spezialistin für Sozialisation, und ich mehr für Politik im Großen. Da waren wir durchaus  sachkundig und in der Lage, mit entsprechenden anderen Fachleuten zu diskutieren. Auch die entsprechende Grundliteratur hatten wir drauf – also nicht nur Marx und Engels und so weiter, um die ging es meistens nicht –, sondern eher diejenigen, die diese ausgelegt hatten. Denn, so weit wie Marx gekommen ist, reicht es nicht – das muss schon noch ein bisschen weitergehen.

I.B.: Es gab damals in den sechziger und siebziger Jahren sehr viel sogenannte graue Literatur, also Raubdrucke, etwa die psychoanalytische Literatur von Anna Freud, die auch über Raum und Entwicklung, gerade im Bereich der Sozialisation, nachgedacht hat. Ein Beispiel in unserer gebauten Praxis ist, dass wir fast immer Fenster gemacht haben, die bis unten reichen, sodass jedes Kind – auch ein Krabbelkind – hinausschauen kann. Ich bin überzeugt, dass das etwas ausmacht bei Kindern.

I.B.: Ich finde es wichtig und auch notwendig, dass ein Kind rausschauen kann. Zudem sind es die räumlichen Erfahrungsmöglichkeiten. Wir haben auch oft Höhenversprünge in den Wohnungen: Kinder finden das ganz toll, wenn sie diese ersten drei Stufen hoch- und runterkrabbeln können. Das sind wichtige Erfahrungen.

Sie haben eine sehr eigene Architektursprache entwickelt, die eine hohe Wiedererkennbarkeit hat. Man könnte zunächst meinen, dass diese Formensprache Selbstzweck ist. Bei näherer Beschäftigung mit Ihren Gebäuden hatte ich jedoch den Eindruck, dass die Formensprache sich immer aus den spezifischen Begebenheiten vor Ort entwickelt hat. Und dass Ihnen gerade Ihre Freiheit in der Formensprache es ermöglicht hat, diesen Begebenheiten zu begegnen…

H.B.: Ja, diese Freiheit muss man sich erarbeiten, und die muss man verfügbar haben, um überhaupt einigermaßen frei denken zu können.

I.B.: Es hängt natürlich von den jeweiligen Grundstücksbedingungen ab, zum Beispiel konnte das Haus an der Lietzenburger Straße nur an der Lietzenburger Straße stehen. In der Form und der Art ist es einfach ganz eindeutig für diese spezifische Situation, mit dieser lauten Straße, gemacht, da die Balkone einen Schutz gegen den Straßenlärm bieten. In den Hof hinein konnte man die Wohnung gar nicht bringen, weil es dort so unwirtlich ist. Dagegen ist die Straße noch wunderbar.

War Ihnen eigentlich eine persönliche Handschrift wichtig?

H.B.: Nein, die hat sich so ergeben.

Till Budde
Till Budde

Was hat es mit der Verspieltheit dieser für ihre Bauten typischen ornamentalen Metall-Geländer in hellgrün auf sich?

H.B.: Also fangen wir mal mit dem einfachsten an: der Farbe. Es gibt bei Metall eigentlich nur dieses Türkis, das natürlich vorkommt, nämlich bei Kupfer. Wo die Formen dagegen nun herkommen, das weiß man nicht – das ist eine künstlerische Sache, und darin habe ich natürlich die größten Aktien.

I.B.: In Sizilien gibt es diese Balkone, die so ein bisschen ausbauchen. Das sind ganz einfache Flacheisen, die etwas gebogen sind. Diese sind immer nur übereinander genietet und haben trotzdem eine räumliche und manchmal sogar florale Wirkung. Aber es sind, wenn man genau hinguckt, unglaublich einfache Formen. Und solche Dinge lassen sich ins Heute übersetzen. Auch unsere Geländer waren eigentlich immer aus ganz wenigen Formen zusammengestellt, ohne komplizierte Eckverbindungen, und sie waren auch nicht teuer.

H.B.: Am Schluss ist es so, dass wir uns auch mit dem Handwerker völlig einig sind, wie er das macht, und er macht uns dann auch den passenden Preis, denn ohne den passenden Preis ist das ganze Ding nicht existenzfähig – das ist das Entscheidende.

Kann man das als einen Kern Ihrer Arbeit oder Ihres Ansatzes sehen: Aus dem Material und der Konstruktion zu denken und daraus eine Komplexität zu entwickeln, der aber ganz einfache Prinzipien zugrunde liegen?

I.B.: Material und Konstruktion spielen schon eine sehr wichtige Rolle. Wir hatten immer das Glück, die ganze Zeit über, bis 1989, mit dem gleichen Tragwerk-Ingenieur zusammenzuarbeiten – Gerhard Pichler. Natürlich haben wir uns mit ihm beraten und viel voneinander gelernt. Das war eine sehr enge Zusammenarbeit.

In der Ausstellung und Publikation zu Ihrem Werk „Visiting Inken Baller und Hinrich Baller, Berlin 1969 – 1989“ von ufoufo aus dem Jahr 2022 ging es auch um den Blick der Bewohnenden auf Ihr Werk. Wurde Ihr Schaffen aus unterschiedlichen Kontexten auch unterschiedlich bewertet?

I.B.: Ja, sicher. Die Bewohner waren eigentlich immer sehr einverstanden. Es gibt beim Fraenkelufer ewige Wartelisten. Die Rezeption von der offiziellen Seite in den siebziger und achtziger Jahren dagegen war oft eher kritisch, wir wurden unter anderem als Freizeitarchitekten bezeichnet…

H.B.: … außerdem wurden die Bauten von den Kosten her immer völlig falsch eingeschätzt…

I.B.: … ja, sie wurden viel zu teuer eingeschätzt, was jedoch nicht stimmt. Die Gebäude wurden ein wenig in die populistische Richtung gedrängt. Das fand ich manchmal etwas schwierig, denn die Leute haben sich ja dort wohlgefühlt. Man kann also sagen, dass die fachliche Diskussion etwas ambivalent war.

H.B.: Wir sind Außenseiter, ja, denn wir kümmern uns darum, was die Leute denken. Viele Architekten haben jedoch ein zu simples Kategoriensystem.

I.B.: Über die normalen Standards hinauszukommen, ist auch mit unglaublich viel Arbeit verbunden – das ist Selbstausbeutung, gar keine Frage. Dazu sind viele Architekten gar nicht bereit, und so ist es für sie vielleicht einfacher, die anderen abzuqualifizieren.

Till Budde
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Wie war die Arbeitsteilung in Ihrem Büro?

I.B.: Wir haben immer gesagt, er, Hinrich, ist ein bisschen mehr der Außenminister, und ich die Innenministerin. Hinrich hat sehr viel die Außentermine und ich mehr die internen Geschichten gemacht. Wir haben ja auch immer Wohnung und Büro  zusammen gehabt, mit unseren beiden Kindern – das war immer eins, untrennbar verbunden.

H.B.: Ich habe es eigentlich immer als dasselbe erlebt: Dass das, was ich vorhin über den Lebensraum gesagt habe, auch für unser Miteinander und unser Zusammensein galt. Aber es war auch nicht ganz einfach mit zwei Kindern…

I.B.: Viele meinen ja, Büro und Wohnen müsse man trennen. Doch dieses Private und Öffentliche, Freizeit und Arbeit – das waren für uns eigentlich keine Begriffe, sondern es ging alles ineinander über. Das ist etwas, das ich bis heute noch als Qualität sehe.

Bei der Recherche zu Ihnen sind mir immer wieder Beiträge aufgefallen, in denen ausschließlich von Hinrich Baller die Rede ist. Haben auch Sie in der Öffentlichkeit manchmal eine gewisse Asymmetrie der Aufmerksamkeit wahrgenommen?

I.B.: Das war damals eben so. Ich erzähle dazu eine kleine groteske Geschichte: Ich habe meinen Mitarbeitern immer die Architektentätigkeiten bescheinigt, sodass sie sich in die Berliner Architektenliste eintragen lassen konnten. Ich selbst jedoch bin nicht auf die Architektenliste gekommen, weil ich nur als die Frau galt, die nur so tut, als ob sie arbeitet. Es gab dann irgendwann ein „Jahr der Frau“ – und da hat Hinrich einen Protestbrief an die Architektenkammer geschrieben.

Können Sie in Grundzügen beschreiben, wie sich Ihr Weg nach Ihrer privaten und beruflichen Trennung 1989 jeweils gestaltet hat?

H.B.: Mit meiner darauffolgenden Büropartnerin und Frau, Doris, habe ich das Dachgeschoss unserer neuen Wohnung in Charlottenburg ausgebaut. Hier konnten wir auch das Büro unterbringen. Sonst hat sich bei mir, etwa bei meiner Professur in Hamburg, gar nichts geändert.

I.B: Bei mir hat sich alles verändert (lacht). Das Jahr 1989 war sozusagen der Reset: Zum einen bin ich als Professorin an die Hochschule nach Kassel gegangen. Wir haben dann unsere Projekte aufgeteilt, und ich brauchte für meinen Teil der Projekte auch Räumlichkeiten. Ich habe durch Zufall an der Hasenheide drei Hinterhofwohnungen für ’nen Appel und ’n Ei gekauft, dort im Erdgeschoss das Büro und darüber meine Wohnung eingerichtet. Mit meinem Büro hatte ich dann irgendwann neun bis zehn Mitarbeiter, sodass wir noch ein bisschen erweitern mussten. Anfang der 2000er-Jahre jedoch gab es diesen großen Einbruch in der Bauwirtschaft und bei den Architekten. Zu dieser Zeit hatte ich eine Professur und die Vize-Präsidentschaft in Cottbus inne, sodass ich das Büro abgebaut habe. Auch, als es wieder aufwärts ging, habe ich nicht noch einmal mit einem Büro wieder angefangen.

Ihr Werk und Ihr Leben sind eng mit Berlin verbunden. Was würden Sie sich für die Zukunft oder die Entwicklung dieser Stadt wünschen?

H.B.: Ich finde diese Muffigkeit, die sich in Berlin ausgebreitet hat, unwürdig, einfach unmöglich. Da ist die Stadt ja beinahe musikalisch besser als architektonisch.

I.B.: Ich würde mir wünschen, dass es wieder etwas mehr Mut gibt. Wenn man sich die heutige Architektur anschaut, auch diese ganzen neuen Wohnungsbauten: Das ist alles viel zu kommerzialisiert und trivialisiert. Berlin hat immer viel herumexperimentiert und auch die Freiräume, die durch diese Sonderlage entstanden waren, genutzt. Doch die Möglichkeits- und Experimentierräume werden heutzutage immer kleiner und kleiner. Ich bin eine begeisterte Berlinerin, aber ich sehe schon, dass sich da etwas zurückentwickelt.

Till Budde
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