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Utopien brauchen Ermöglicher – ein Rückblick auf das 28. Berliner Gespräch

13. Dezember 2023

Foto: Till Budde
Foto: Till Budde

In der Solidarität liegt die Kraft, und Solidarität muss zunächst einmal ermöglicht werden. Unter dem Thema „Solidarität und Stadt“ kuratierten Laura Holzberg und Alesa Mustar, künstlerische Leitung des DAZ, 2023 erstmalig das Berliner Gespräch und gingen atmosphärisch wie inhaltlich neue Wege. Mit zwei Panels, die sich aus jeweils drei Impulsvorträgen und einer Diskussion gestalteten, regten sie in diesem Jahr einen Diskurs darüber an, wie angesichts zunehmender Krisen und Ungleichheiten ein neues Verständnis für Gemeinschaft und gerechtere Raumproduktion gewonnen werden kann. Solidarität und Vielfalt wurden auch im Rahmen des gemeinsamen Mittagessens an langen, festlich geschmückten Tafeln zelebriert.

In ihrer Eröffnungsrede appellierte BDA-Präsidentin Susanne Wartzeck, Solidarität „nicht als Verteilung von Almosen“ zu begreifen, sondern als Idee der Teilhabe, die ihren Ausdruck nicht nur im Zwischenmenschlichen, sondern besonders im Stadträumlichen und in der Architektur finden müsse. Laura Holzberg und Alesa Mustar ergänzten diesen Gedanken mit der These, dass die „Ausgestaltung unserer gebauten Umwelt soziale Ungleichheiten lindern oder auch verschärfen“ könne, „je nachdem.“

Das Panel „Die Kraft des Aufständischen“ eröffnete Moderatorin Niloufar Tajeri mit einer Frage nach der Macht von Gestaltung: „Für wen wird Raum gestaltet und wer hat Raum für Gestaltung?“
Eine mögliche Antwort auf diese Frage gab zunächst die Architektin und politische Bildnerin Tashy Endres mit ihrem Vortrag über „Community Organizing“ am Beispiel des Berliner Gecekondu-Projekts. Darin hob sie die identifikatorische Bedeutung von gemeinschaftlichen Gestaltungs- und Aushandlungsprozessen hervor; sie unterschlug dabei das Risiko solcher Prozesse nicht, aufreibend oder gar unbequem zu sein. Um Architekturlösungen zu erzielen, die allen Beteiligten einen Mehrwert bieten, lud sie alle Planerinnen und Gestalter ein, individuelle ästhetische Bedürfnisse und Erwartungen jenen der Gemeinschaft unterzuordnen.
Orhan Esen, Stadtforscher, Aktivist und Mitautor von „Self Service City: Istanbul“ (2005), zeichnete in seinem Beitrag „Urbane Transformation von unten“ Istanbuls Entwicklung von einer kleinteiligen Stadt ohne Eigentumsrechte zu einer Metropole der „Selbst-Gentrifizierung“ durch Privatisierung nach. Eine progressive Förderung von Eigentumsrechten auf Boden und Wohnraum versteht er als politische Abwehr von Gemeinwohl.
Mit ihrem Vortrag „Gelebte Gemeinschaft: Netzwerke als solidarische Infrastrukturen einer gerechten Raumpraxis“ gab Anna Steigemann, Professorin für Urbanistik und Raumsoziologie an der Universität Regensburg, zu bedenken, räumliche Nähe nicht mit sozialer Nähe gleichzusetzen. Letzteres müsse aber als Bedingung für eine solidarische Gesellschaft anerkannt werden. „Hosting“-Räume für „Neuankommende“ können ihren Forschungen zufolge nicht nur gegen soziale Vereinzelung und Vereinsamung helfen, sondern neue Formen von Gemeinschaft schaffen, die für alle städtischen Gesellschaftsgruppen einen Mehrwert hätten. Anna Steigemann ist Mitglied des Forschungsprojekts Transforming Solidarities, dessen Ausstellung Spaces of Solidarity bis zum 21. Januar 2024 im DAZ zu sehen ist.

Moderatorin Kathrin Wildner, Stadtethnologin und Professorin an der HafenCity Universität in Hamburg, lud das Publikum ein, im zweiten Panel „Die Macht der Sichtbarkeit“ diverse Räume und Qualitäten von Solidarität in der Stadt zu beleuchten, nachdem das erste Panel sich vor allem mit dem Wohnen beschäftigt hatte.
Anna Yeboah, Architektin und Kuratorin, machte in ihrem Vortrag „Das Unsichtbare erfahrbar machen: Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt“ solche Qualitäten sichtbar. Die Projektinitiative „Dekoloniale“ erforscht die Vergangenheit und Gegenwart des Kolonialismus in Berlin und bundesweit sowie in Deutschlands ehemaligen Kolonien, initiiert in der Folge Stadtspaziergänge, Gedenkorte oder Ausstellungen. Ihre Ausstellung „Solidarisiert Euch! Schwarzer Widerstand und globaler Antikolonialismus in Berlin, 1919-1933“ ist bis März 2024 in Berlin zu sehen.
Jörg Stollmann, Professor für Städtebau und Urbanisierung an der Technischen Universität Berlin, stellte „Mappings als politische Praxis“ vor. Die Methode des „Critical Mapping“ betrachtet er als geeignet, um sozialräumliche Prozesse, Bedarfe und Potenziale nachzuzeichnen. Zugleich wies er darauf hin, dass Kartierungen stets selektiv informierend und daher immer politisch seien, weil ihnen spezifische (politische) Absichten zugrunde liegen.

Anhand eines Kurzfilms präsentierte das Kollektiv Guerilla Architects abschließend ihr Kunstprojekt „mehringplatzen! Eine performative Raumaneignung“ , das es 2022 in Kooperation mit dem Theater Hebbel am Ufer HAU am Berliner Mehringplatz realisiert hat. Das von sozialem Wohnungsbau der 1960-70er Jahren geprägte Ensemble rund um den Platz gilt als sozialer Brennpunkt. Der zunehmenden Verelendung des öffentlichen Raums begegneten Guerilla Architects mit performativ-künstlerischen Aktionen und Interventionen, um die Bewohnerschaft situativ zu aktivieren, jedoch ohne sie in den Entwicklungsprozess einzubeziehen.

„Was schwierig ist, ist die Verbindlichkeit“, nicht das Sichtbarmachen an sich, erklärte Benedikt Stoll, Guerilla Architects, im Anschluss. Anna Yeboah plädierte für Institutionen, deren Förderrolle nicht dadurch definiert sei, „alles kontrollieren [zu] müssen“, sondern als „Ermöglicher“, die Kulturschaffende „einfach mal machen lassen“ – ein Apell, den BDA-Präsidentin Susanne Wartzeck in ihrem Schlussplädoyer auch für den BDA verantwortungsvoll annimmt. Sie verabschiedete das Publikum mit einer Einladung, kleine Utopien nicht nur zuzulassen, sondern zu ermöglichen, indem „wir uns einmischen und aktiv teilnehmen.“ (dj)