Sorge um den Bestand

EINE AUSSTELLUNG UND PUBLIKATION DES BUNDES DEUTSCHER ARCHITEKTINNEN UND ARCHITEKTEN BDA

In zehn Strategien stellen Architekt*innen und Urbanist*innen ihre Sorge um den Bestand vor: Ein Sorgetragen für den Gebäudebestand, für gewachsene soziale Strukturen und für den Fortbestand der Erde. Sie laden ein, die Permanenz von Gebautem und Gewachsenem zu lesen und plädieren für ein Weiterdenken und achtsames Reparieren von Lebensräumen und Wohnkulturen. Sie zeigen, wie sich neue Perspektiven im urbanen und regionalen Kontext durch vernetzte Ansätze, durch gemeinwohlorientierte Kooperationen und durch Beteiligungskonzepte ergeben. Für den künftigen Bestand, also die heute errichteten Gebäude, werden Strategien für den zirkulären Materialeinsatz und eine Offenheit für kommende Anforderungen entwickelt.

Die Ausstellung des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten BDA wurde von Olaf Bahner, Matthias Böttger und Laura Holzberg kuratiert. Ausstellungsgestaltung: Marius Busch – ON/OFF und Christian Göthner – lfm2.

„Sorge um den Bestand. Zehn Strategien für die Architektur“ ist ein Projekt im Forschungsprogramm „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ des BMWSB/BBSR und wird durch das das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen finanziell gefördert.

NÄCHSTE STATION: ERFURT

E R F U R T
Ehem. Bahnhallenareal Erfurt

AUSSTELLUNG
April bis September 2024


„Sorge um den Bestand“ ist eine Ausstellung des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten BDA und des Deutschen Architektur Zentrums DAZ.

Ausstellung und Publikation sind Teil des Forschungsprogramms „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ des BMWSB/BBSR und werden durch das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen gefördert.

 

LETZTE STATIONEN

W I E N
Ausstellung im WEST
Alte WU, Augasse 2–6, 1090 Wien
www.west-space.at

AUSSTELLUNG
20. September bis 26. Oktober 2023

Öffnungszeiten
Montag bis Samstag, 14 bis 19 Uhr

Weitere Informationen finden Sie unter www.baukulturpolitik.at


RAHMENPROGRAMM

19.09.2023, 19.00 Uhr
Ausstellungseröffnung

20.9.—26.10.2023 // Foyer
Bioregionale Strategien zur Wiederverwendung
Eine Ausstellung der TU Wien in Kollaboration mit LINA und UNISONO
Eröffnung: 19.9.2023, 18:30 Uhr
Organisation: Thomas Amann, Tina Gregorič, Gordon Selbach, Jakob Travnik, Elisabetta Schmidtlein, TU Wien
Öffnungszeiten: Mo—Sa, 14—19 Uhr

29.9.2023, 18 Uhr // Festsaal
Architekturberuf und Umbaukultur: Eine Selbstbefragung
Führung und Diskussion
Mit: Olaf Bahner, Mitglied des Kurator*innenteams, BDA-Bundesverband, Berlin
Ayşin İpekçi, STUDYO Architects, Köln
Carina Sacher, TU Wien/ETH Zürich
Lina Streeruwitz, StudioVlayStreeruwitz
Moderation: Maik Novotny, ÖGFA
Eine Veranstaltung der ÖGFA

3.10.2023, 19 Uhr // Festsaal
Und das ist die gute Nachricht: Die Welt ist gebaut…
Eine Veranstaltung von architektur in progress
Vortrag: Tabea Michaelis und Ben Pohl, Denkstatt, Basel
Diskussion mit: mia2 Architektur, Linz
Moderation: Volker Dienst, architektur in progress

10.10.2023, 18 Uhr // Treffpunkt Foyer
Tatort alte WU. Eine kollaborative Spurensicherung im Bestand
Das Prozesshafte in der Architektur: alte Spuren erkunden und neue Spuren hinterlassen.
Experimentelle Führung mit Julia Dorninger
Eine Kollaboration der IG Architektur

12.10.2023, 19 Uhr // Festsaal
Bestandserhaltung: Wie gehen öffentliche Eigentümer*innen damit um?
Diskussion mit:
Wolfgang Gleissner, Geschäftsführer BIG Bundesimmobiliengesellschaft;
Bernhard Jarolim, Stadtbaudirektor Wien;
Susanne Kirchmann, Geschäftsführerin Immobilien Bremen; Doris Österreicher, Universität für Bodenkultur Wien
Moderation: Anna Soucek

Eine Veranstaltung der Plattform Baukulturpolitik

20.10.2023, 15 Uhr // Treffpunkt Foyer
ʼ70er-Megastrukturen in Transformation
Die Exkursion verbindet den Besuch der zwischengenutzten Universitäts-Großstruktur und eine Ausstellungsführung mit einer Baustellenbesichtigung des Franz-Josefs-Bahnhofs.
Mit: Robert Temel, Stadtforscher, Felix Zankel, joyjoy studio, Carina Sacher, Stadtforscherin, Dietmar Feistel, Delugan Meissl Associated Architects
Moderation: Maria Welzig, Az W
Eine Veranstaltung des Architekturzentrum Wien
Anmeldung erforderlich unter www.azw.at

24.10.2023, 19 Uhr // Institutsbüro, OG 1
Bestand, das Gold der Zukunft. Zirkuläres Bauen in Theorie und Praxis
Vortrag: Rebekka Steinlein, Concular, Berlin
Eine Veranstaltung der Plattform Baukulturpolitik

25.10.2023, 13—18 Uhr // Foyer
Bioregionale Strategien zur Wiederverwendung
Designathon: Ein intensives Workshop-Format von UNISONO in Kollaboration mit der Wirtschaftsagentur Wien
Moderation: UNISONO
Anfragen und Anmeldungen (bis 15.10.): anmeldung@inprogress.at


K O B L E N Z
Citykirche Koblenz
Jesuitenplatz, 56068 Koblenz

AUSSTELLUNG
31. März 2023 bis 02. Mai 2023

ERÖFFNUNG
Freitag, 31. März 2023, 18.00 Uhr

RAHMENPROGRAMM
MODERIERTE AUSSTELLUNGSRUNDGÄNGE und
INTERMEZZI, Musikalisch-lyrisch-räumliche Interpretationen

UNESCO WELT[LEER]ERBE MITTELRHEINTAL
Reallabor Mittelrheintal: Umgang mit Leerräumen
in Kaub, Rhens, Spay und St. Goarshausen
Mittwoch, 19. April 2023, 18.30 Uhr

11. BDA-GESPRÄCH
Rheinland-pfälzische Positionen für den Bestand und gegen den Abriss
Dienstag, 02. Mai, 18.30 Uhr

KOOPERATIONSAUSSTELLUNG
Zeitzeugen aus Stein. Fotografien von Axel Thünker
28. April bis 11. Juni 2023

Weitere Informationen finden Sie unter
www.bda-rheinland-pfalz.de


H A M B U R G
Museum für Kunst und Gewerbe
Steintorplatz, 20099 Hamburg

AUSSTELLUNG
02. Dezember 2022 bis 05. März 2023

ERÖFFNUNG
01. Dezember 2022, 19 Uhr

RAHMENPROGRAMM
26. Januar 2023, 18 Uhr
AUF BESTAND BAUEN. WEGE ZUR UMBAUKULTUR
Ausstellungsrundgang und Diskussion

02. März 2023, 18 Uhr
BESTAND BRAUCHT HALTUNG. DIE ABREISSEREI MUSS EIN ENDE HABEN.
HAMBURGER PPOSITIONEN ZUM UMGANG MIT DEM BESTAND
Ausstellungsrundgang und Diskussion


D R E S D E N
robotron-Kantine
Lingnerallee am Skatepark, 01069 Dresden

AUSSTELLUNG
09. Juli bis 21. August 2022

RAHMENPROGRAMM
Freitag, 08. Juli 2022, 18.00 Uhr
Eröffnung

Donnerstag, 14. Juli 2022, 18.00 Uhr
Film „SCHROTT ODER CHANCE – Ein Bauwerk spaltet Potsdam“
von 414 Films, 2019

Donnerstag, 21. Juli 2022, 19.00 Uhr
Buchvorstellung „Freiheit, Kunst, Gemeinschaft. Bauhaus-Ideen als Fragen an die Gegenwart. Eine Tagung“
von Dr. Justus H. Ulbricht (Hsg.), 2022

Samstag, 06. August 2022, 15.00–16.00 Uhr
Sonderführung durch die Ausstellung
Alexander Pötzsch (BDA Sachsen)

Donnerstag, 11. August 2022, 19.00 Uhr
Film „Die Architekten“
von Peter Kahane, 1990

Donnerstag, 18. August 2022, 19.00 Uhr
Diskussion „Bestand weiterbauen“
Wie kann der Bestand weiterentwickelt werden? Ist Denkmal ein Zustand oder können / müssen Denkmale weitergebaut werden, um zukunftsfähig zu sein. Wie weit kann und darf man dabei gehen?

Samstag/Sonntag, 20./21. August 2022, 11.00 Uhr–16.00 Uhr
Workshop/Finissage “Parquetteria – neue Möbel aus altem Holz“

Weitere Informationen zu Begleitveranstaltungen wie Workshops und Führungen finden Sie unter
www.kunsthausdresden.de
www.bda-architekten.de/sorgeumdenbestand


BONN


LÜBECK


MÜNSTER


MÜNCHEN


BERLIN

EIN RUNDGANG DURCH DIE AUSSTELLUNG MIT DEN DREI KURATOR/INNEN

Statement des Kurators Olaf Bahner

Statement des Kurators Matthias Böttger

Virtual Tour durch die Ausstellung

Wir bieten auch eine virtuelle Tour durch unsere Ausstellung an: Sie können sich ganz einfach durch die Ausstellung bewegen und Texte, Bilder und weiterführende Informationen zu den Strategien (auf das „i” klicken) abrufen.

https://virtualtour.bestand.daz.de/

 

Publikation „Sorge um den Bestand“

Die Publikation „Sorge um den Bestand“ ist der Aufruf zu einer reduktiven Strategie in der Architektur, die die planetarischen Grenzen anerkennt und die zeigt, das Bauen nach dem Wachstum nicht Verzicht bedeutet, sondern zu einem Testfeld für nachhaltige Wohn- und Arbeitsformen werden muss.Herausgegeben vom BDA, stellt die Publikation gesellschaftliche Denk- und Handlungsansätze für ein kreatives Unterlassen vor – unter anderem vom Postwachstumstheoretiker Niko Paech und von Amica Dall, Mitglied im Londoner Künstlerkollektiv Assemble.


Sorge um den Bestand. Zehn Strategien für die Architektur
Olaf Bahner / Matthias Böttger / Laura Holzberg (Hg.)

17 × 24 cm, 192 Seiten, 28 €
ISBN 978-3-86859-659-5

Publikation bestellen beim Jovis-Verlag

BEITRÄGE AUS DER PUBLIKATION

OLAF BAHNER, MATTHIAS BÖTTGER, LAURA HOLZBERG

Wie können wir zukünftig auf dieser Erde zusammenleben? Wie wollen wir für unseren Planeten Sorge tragen? Die sich verändernden Lebensbedingungen erfordern, Gewohnheiten grundlegend zu überdenken. Die Zeit spricht für ein Umsteuern – oder fahrlässig das Leben auf der Erde zu riskieren. Obwohl das Bewusstsein für den von Menschen verursachten Klimawandel und für unsere bedrohte Existenz zunehmend in die Breite der gesellschaftlichen Debatten vordringt, kommt die dramatisch fortschreitende Umweltzerstörung angesichts der bisherigen Verhaltensänderungen einer vergessenen Katastrophe gleich.
Wie schwer es ist, das eigene Verhalten zu ändern, erfährt jede*r fast täglich. Klimaschutz ist ein komplexes Thema, gekennzeichnet von Interdependenzen. Einfache Antworten gibt es nicht. Hemmend wirkt zudem, dass wir nur sehr zögerlich unseren Lebensstil hinterfragen – weil es unbequem ist. Die Hoffnung vieler konzentriert sich auf technische Lösungen, die die Folgen des Klimawandels reduzieren sollen. Aus dieser Sackgasse müssen wir gemeinschaftlich herausfinden und Sorge tragen, dass die Erde weiter bewohnbar bleibt.

Wie wir in Zukunft zusammen leben können, hängt davon ab, wie ein Sorgetragen organisiert, praktiziert und welchen gesellschaftlichen Stellenwert diesem zugemessen wird. Menschen sind vom ersten Lebenstag an auf Fürsorge anderer angewiesen. Empathie und soziale Beziehungen gehören zu unseren Überlebensstrategien, die sich in Form eines Sorgetragens ausdrücken. Um auf unserem Planeten zu überleben, ist ein fürsorgliches Handeln der Menschen für die Erde gefordert.

“On the most general level, we suggest that caring be viewed as a species activity that includes everything we do to maintain, continue, and repair our “world” so that we can live in it as well as possible that which we seek to interweave in a complex, life-sustaining web.”

Klar ist, dass für den Schutz der Erde gemeinsam Sorge zu tragen ist. Dazu zählt auch, dass Menschen ihre Lebensweise ändern, vielleicht das Leben sogar bescheidener ausrichten und verzichten müssen. Verzichten können – im globalen wie im lokalen Maßstab – insbesondere jene, die ausreichend haben. Um künftig in einer Verbundenheit mit der Erde zu leben, sind einschneidende Veränderungen notwendig.

Menschen zu motivieren, diese Herausforderungen anzugehen, kann gelingen, wenn sie Verantwortung übernehmen und die Wirkungsmacht ihres persönlichen Verhaltens erleben. Andere Verhaltensweisen müssen vorstellbar und erlebbar werden – sinnlich und wirklichkeitsnah. Klimaschutz ist nicht als Pflichtprogramm vermittelbar, sondern als inspirierender Ansatz, der die ökologische Notwendigkeit in die Poesie des Alltags einschreibt.

Gerade im Wohnen kann sich zeigen, wie die Poesie des Alltags die Notwendigkeit zum ökologischen Handeln erleichtern kann. Wohnen ist mehr als die energieeffizient gestaltete Wohnung. Wohnen steht symbolisch für das menschliche Dasein auf der Erde und beeinflusst – direkt oder indirekt –, wie und wo Menschen arbeiten, welches Mobilitätsverhalten sie wählen, ob Gemeinschaft ermöglicht und erlebt werden kann und wie Freizeit sich gestalten lässt. In der Frage, wie eine räumliche Metamorphose mit der Transformation einer verbrauchsorientierten Lebensweise verknüpft werden kann, liegt die eigentliche Brisanz des Wohnens. Ist ein „kreatives Unterlassen“, das auf Umnutzen, Wiederverwenden, Nachnutzen und Mitnutzen sowie auf geänderte Formen des Zusammenlebens und Wirtschaftens setzt, ein mögliches Prinzip? Wie lässt sich Reduktion als kreativer Gestaltungsansatz auf das Wohnen übertragen und welcher Wert ist dabei zu schaffen, so dass das Verzichten nicht als Verlust empfunden wird?

Gesucht sind dafür konzeptionelle Lösungen, die bestehende Standards und Routinen aufbrechen, wie beispielsweise die Integration von Wohnen und Arbeiten, das Wohnen mit reduziertem Komfort und Raumbedarf oder die Suffizienz durch Teilen. Für den Einzelnen liegt der damit geschaffene Wert im Zugewinn an Gemeinschaft – in Form gestärkter Nachbarschaften oder eines gemeinschaftlichen Lebens auf miteinander genutzten Flächen. Weit mehr als der Neubau eröffnet der Gebäudebestand einen Möglichkeitsraum, um durch kreatives Umnutzen, Nachnutzen und Mitnutzen neue Lebens-, Wohn- und Arbeitsformen auszuprobieren, die Menschen dazu einladen, das ökologische Erfordernis zur Reduktion nicht als Pflicht, sondern als Ausgangspunkt für ein bereichertes und bewussteres Leben zu empfinden und zu akzeptieren.

Basis dafür ist unter anderem ein Lebens- und Wirtschaftsstil, der – wie von Niko Paech in seinem Artikel Kreative Genügsamkeit als Überlebensstrategie beschrieben – sowohl eine ökologische als auch eine ökonomische und soziale Überlebensfähigkeit sichert. Das Etablieren einer Kultur der Suffizienz und autonomer Versorgungspraktiken schafft neue persönliche Freiheiten jenseits der dominierenden Erwerbstätigkeit. Es ist ein Gegenentwurf zur industriellen Logik des 20. Jahrhunderts und Basis für veränderte Lebensstile und eine neue unternehmerische Kreativität.

Diese reduktive Strategie steht im starken Kontrast zu unserer hoch-individualisierten Gesellschaft, die sich wesentlich durch das Streben nach Selbstentfaltung, nach Einzigartigkeit motiviert. Und dennoch lohnt es sich, zu fragen, was ein kreatives Unterlassen als Ausdruck des Sorgetragens für die Überlebensfähigkeit der Erde und der Menschen in der Architektur und für das Schaffen von Architektur bedeutet. Kann die Auseinandersetzung mit dem Vorhandenen, also dem Bestand an Gebäuden, eine Chance sein, das nach wie vor extrem ressourcenintensive Bauen auf den Boden der Realität zurückzuführen? Kann eine Wertschätzung des Vorhandenen (wieder) zum Maß der Dinge werden?

Voraussetzung dafür ist ein Umdenken hinsichtlich der Art des Bauens. An die Stelle des auf kurzfristige Rentabilität angelegten Bauens tritt ein Verständnis des Architekturschaffens, das im Sinne eines Sorgetragens für die Erde den ökologischen und kulturellen Wert des Gebäudebestands als Reservoir zum Weiterdenken und Weiterbauen erkennt, respektiert und nutzt.

Hierin liegt die doppelte Relevanz des Sorgetragens für die Architektur: Sorge um den Bestand zielt nicht nur aus ökologischen Gründen auf ein sorgsames, weiterführendes Erhalten des Gebäudebestands ab. Verbunden damit ist ein Sorgetragen für die sozialen Strukturen, die mit den Gebäuden verbunden sind – für Menschen, die in diesen Gebäuden leben, wohnen und arbeiten.

Die Argumente ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit wie auch kultureller Wert, die für den Erhalt des Bestands sprechen, erweitert Elke Krasny in ihrem Artikel Bestand als Vorsorge um die Politik der Sorge: Menschen müssen sich im Wohnen, im Arbeiten, in der Gesundheitsvorsorge auf den Bestand verlassen können, um bestehen, um leben, um überleben zu können. Ihr Plädoyer ruft in Erinnerung, dass jede*r in ein vielfältiges Beziehungsgeflecht eingebunden und auf Zuwendungen anderer angewiesen ist. Diese Sichtweise verknüpft die individuelle mit der kollektiven Dimension des Sorgetragens. Denn Gebäude sind nicht neutral, sondern gebaute Belege für Denkweisen und zwischenmenschliche Beziehungen.

Viel Neues wurde in den letzten Jahren mit dem Versprechen gebaut, die Welt sozial und ökologisch gerechter zu gestalten. Das Heilsversprechen auf eine bessere Zukunft, in deren Namen Bestehendes leichtfertig geopfert wird, entzaubert Amica Dall in ihrem Artikel Das Problem mit der Zukunft. Geopfert wurden Gebäude, ganze Quartiere wie auch gewachsene soziale Strukturen, um mit Neuem vermeintlich Besseres zu schaffen. „Die Dinge, vor denen wir die Zukunft schützen wollen, sind genau jene, die jetzt in diesem Moment geschehen.” Das Argument einer zu sichernden Zukunft darf nicht den Blick auf die Gegenwart verstellen. Über die Zukunft nachzudenken, heißt, mit Sorgfalt das Bestehende wie auch das Mögliche zu betrachten.

Wie die statische Zuordnung von Raum zu einem spezifischen Nutzungsprogramm im Gebäudebestand umgedeutet und so das Prinzip des kreativen Unterlassens zu neuen Nutzungen und einem reduzierten Ressourcenverbrauch ausgestaltet werden kann, zeigt Anne-Julchen Bernhardt in ihrem Aufsatz Die Wohnungsfrage Notizen zum Bestand. Dabei betont sie, dass der Entwurf im Bestand erst reagiert, bevor er agiert. Damit wird der Fokus auf das Lesen, Erkennen und Akzeptieren des Werts des Vorhandenen gelegt.
Meist sieht jedoch die Zukunft für den Gebäudebestand sehr grau aus. So gut gemeint die Argumente auch sind, mit denen gegen den Abriss von Gebäuden gekämpft wird, gegen die ökonomische Rationalität und den technischen Veränderungsdruck – verkauft als Fortschritt – richten Kriterien wie Denkmalschutz, Kulturgut oder stadtbildprägende Architektur letztlich nur wenig aus. Den mit Idealismus, gestalterischem und technischem Können weitergebauten, aktivierten und sanierten Gebäuden steht eine Vielzahl an schmerzlich verlorener Bausubstanz gegenüber.

Doch wer fragt nach den dafür aufgebrachten Ressourcen und verlorengegangenen baulichen Energien? Diese sind erheblich: Allein über 2,5 Tonnen an Bau- und Abbruchabfällen fallen im Jahr pro Bundesbürger*in an. Im Vergleich dazu nimmt sich der mit großer medialer Aufmerksamkeit diskutierte Verpackungsabfall, der 2017 bei 227 kg pro Bundesbürger*in lag, als geradezu gering aus. Auch die in Gebäuden gespeicherte graue Energie, die Gesamtsumme der für Produktion, Transport, Errichtung und Entsorgung eines Gebäudes aufgewendeten Energie, ist ein gewichtiges Argument, Bestehendes zu erhalten und zu qualifizieren.
Der gigantische Ressourcenverbrauch im Bauen muss sich ändern – durch ein Reduce, Reuse, Recycle, wie Muck Petzet es bereits zur Architekturbiennale in Venedig 2012 programmatisch einforderte. Verbunden ist damit die Frage, wie mit konzeptionellen Lösungen eine Zukunftsoption für den Bestand formuliert werden kann.

Strategien für die Sorge um den Bestand

In zehn Strategien veranschaulichen Architekt*innen und Urbanist*innen ihr Verständnis davon, wie Sorge um den Bestand zu einem immanenten Teil des Architekturschaffens werden könnte. Ihnen allen gemein ist dabei der perspektivische Blick auf den Bestand, um ihn für heutige und künftige Nutzungen weiterzudenken und weiterzubauen. Für den Bestand Sorge zu tragen heißt für sie, in einer partizipativen, partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den Menschen den Bestand weiterzuentwickeln.

Damit verbunden ist die Abkehr vom patriarchalen und autoritären Fürsorgeverständnis in der Architektur, hin zu einem Prozessverständnis, um gemeinsam mit den beteiligten Menschen die Potenziale des Bestands zu erkennen, zu lesen und weiterzudenken.

Die Autor*innen reflektieren in ihren Strategien auf ökologische Notwendigkeit für eine Ressourceneinsparung, die sich nicht nur durch die Aktivierung des Bestands einlöst, sondern auch durch ein kreatives Unterlassen. Statt kosten- und materialintensiver Totalumbaustrategien werden Konzepte vorgestellt, die schrittweise umsetzbar sind, die sich durch kleinstmögliche Eingriffe und einen geringen Ressourceneinsatz auszeichnen und so dem bezahlbaren Weiterbauen, Wohnen und Leben im Sinne einer sozialen Verantwortung gerecht werden.

ANNE KATRIN BOHLE

Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat

BMI

Der Umgang mit dem baulichen Erbe wirft heute viele Fragen auf. Was kann man vom Bestand von gestern für den Bestand von morgen lernen? Welche Möglichkeiten bietet das Vorhandene für die neuen Anforderungen, die Nutzer*innen heute an den Wohnraum stellen? Wie bleibt Wohnen bezahlbar?

In Deutschland gibt es heute etwa 42 Millionen Wohnungen in über 19 Millionen Gebäude – das ist eine immense materielle Ressource und ein kultureller und gesellschaftlicher Wert. Viele Gebäude sind dabei nicht nur reiner Wohnraum – sie prägen das Stadtbild, geben Orientierung im Stadtraum und in der Geschichte und stiften Identität für Bürger*innen und Touristen*innen. Der Gebäudebestand spielt auch für den ökologischen Wandel, den Klima- und Ressourcenschutz eine zentrale Rolle. Das Weiterbauen und In-Wert-Setzen bestehender Gebäude sichert also deren baukulturellen, ökonomischen und ökologischen Wert. Der Bestand ist damit Chance und Herausforderung zugleich. Das gilt nicht nur für stark nachgefragte Lagen und angespannte Wohnungsmärkte. Gerade in strukturschwächeren Regionen können Investitionen in baukulturell und auf andere Weise wertvolle Bestandsobjekte wichtige Impulse setzen.

Wir müssen uns daher die Frage stellen: Wie gehen wir mit dem Bestand um? Hier ist eine kreative Auseinandersetzung mit der Bausubstanz gefragt. Ideen auf diesem Gebiet bereichern das Stadtbild und die Stadtgesellschaft. Es wäre fahrlässig, die Potenziale im Bestand aufgrund vermeintlich mangeln-der Anpassungsfähigkeit nicht auszuschöpfen. Die Sorge um den Bestand ist damit aktueller denn je und braucht dringend Lösungen. Nur so kommen wir zu einer echten neuen Umbaukultur. Es ist gut, dass sich die Mehrzahl der Kommunen bereits aktiv mit dem Siedlungsbestand beschäftigt.

Ziel der Bundesregierung ist ein nahezu klimaneutraler Gebäudebestand bis zum Jahr 2050. Um das zu erreichen, müssen wir zunächst die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2030 fast halbieren. Als größter öffentlicher Bauherr in Deutschland steht der Bund dabei klar zu seiner Vorbildfunktion für ressourcensparendes und klimagerechtes Planen und (Um-)Bauen. Diese gewaltige Aufgabe, sowohl in der Finanzierung als auch in der Akzeptanz und baupraktischen Umsetzung, kann aber nur unter der tatkräftigen Mitwirkung aller Akteur*innen gelingen.

Die Entwicklung des Bestands spielt auch in der Wohnraumversorgung eine wichtige Rolle. Viele Menschen sorgen sich wegen steigender Wohnkosten. Wir nehmen diese Sorgen ernst: Mit der gemeinsamen Wohnraumoffensive von Bund, Ländern und Kommunen und begleitet von den Partner*innen im „Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen“ wurde ein einmaliges Maßnahmenpaket geschnürt, um Wohnraum zu schaffen. Es bündelt investive Impulse, Maßnahmen zur Sicherung des bezahlbaren Wohnens, zur Baulandmobilisierung, zur Baukostensenkung und zur Fachkräftesicherung. Die Bundesregierung kann heute eine erfolgreiche Bilanz ziehen. Alle zentralen Beschlüsse des Wohngipfels wurden umgesetzt oder sind auf den Weg gebracht.

Klar ist: Neubau für alle Preissegmente ist notwendig, insbesondere in Städten mit hoher Nachfrage. (Neu-)Bauen allein reicht aber nicht aus. Der Bestand an Wohnraum muss gesichert und weiterentwickelt werden, insbesondere im bezahlbaren Segment. Denn die Lösungen für viele Herausforderungen in der Stadtentwicklung und im Wohnungsbau liegen im Umbau und in der Neugestaltung des Bestands. Architekt*innen und Planer*innen mit ihren innovativen und kreativen Ideen spielen dabei eine wichtige Rolle.

Der BDA verknüpft mit dem Projekt „Sorge um den Bestand“ den baukulturellen und ökologischen Wert des Gebäudebestands mit dem Blick auf andere gesellschaftlich relevante Fragen. Ziel ist es, zukunftsfähige und bezahlbare Wohnkonzepte mit klima- und umweltschonenden, aber auch mit gesundheitsförderlichen Lebens- und Arbeitsformen zu entwickeln und neue Perspektiven aufzuzeigen. Diese Beschäftigung mit dem Bestand zeigt dabei auch Potenziale für den Neubau auf.

Die vorliegende Publikation lenkt den Blick auf teils ungewohnte Aspekte, wie wir das gebaute Erbe neu bewerten können. Sie gibt wertvolle Denkanstöße, die den Diskurs rund um die Weiterentwicklung des Bestands ausbauen und befördern. Damit leistet sie auch einen Beitrag zu den wohnungspolitischen Zielen des Bundes.

 

ANNE KATRIN BOHLE
Staatssekretärin im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat seit März 2009. Vor ihrer Ernennung leitete sie die Abteilung für Stadtentwicklung und Denkmalpflege im Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen. In dieser Funktion war sie auch Vorsitzende des Ausschusses für Bauen, Stadtentwicklung und Wohnen der Bauministerkonferenz. Zuvor war sie Leiterin des Ministerbüros im Ministerium für Bauen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen. Anne Katrin Bohle begann ihre Karriere in der Agentur für Arbeit wo sie unterschiedliche Leitungsfunktionen bekleidete und zuletzt Vorsitzende der Geschäftsführung der Agenturen in Nordrhein-Westfalen und Brandenburg war. Sie studierte Rechtsund Staatswissenschaften an den Universitäten Gießen, Münster und Bonn.

 

 

SUSANNE WARTZECK

Präsidentin des BDA

Erhalte das Bestehende! So lautet der neue Imperativ des Bauens angesichts der Klimakrise. Eindeutig ist dazu die Position des BDA: Priorität kommt dem Erhalt und dem Weiterbauen des Bestehenden zu und nicht dessen leichtfertigem Abriss.

Blauäugig oder romantisierend? Zugegeben, die damit verbundenen Fragen sind vielfältig.

Welche Zukunftsbilder formulieren produktive und überzeugende Ideen, die Menschen motivieren, eingeschlagene Pfade im Denken und Handeln zu verlassen? Ist dabei der propagierte Verzicht ein erstes Anzeichen für eine Ökodiktatur? Eine ökologische Transformation unserer auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaftsweise wird mental und gesellschaftlich nur

dann gelingen, wenn sich die damit verbundenen Lebens- und Arbeitsweisen im Alltag der Menschen bewähren. Könnte ein reduzierter Ressourcenverbrauch durch das Mitnutzen, das Weiternutzen und das Reparieren als Alternative zur Wegwerfgesellschaft eine Akzeptanz finden?

Erforderlich ist dafür ein Umdenken im kleinen Maßstab des täglichen Konsums wie im großen Maßstab des Bauens. Bauen ist nach wie vor immens ressourcenintensiv. Das muss sich ändern. Bauen muss vermehrt ohne Neubau auskommen. Das Bestehende zu erhalten und weiterzubauen, den kulturellen und ökologischen Wert des Gebäudebestands weiterzudenken, ist eine große Zukunftsoption, um die Zusammenhänge zwischen Gebäude und Stadt, zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen in eine ökologische Balance zu bringen.

Weder als Gesellschaft noch als Berufsstand können wir die betriebswirtschaftlich begründete Lebensdauer von dreißig Jahren für Gebäude akzeptieren. Zu wertvoll sind dafür die verbauten Ressourcen, zu wertvoll sind die mit den Häusern gewachsenen sozialen Strukturen und ihre erzählenden Geschichten. Bauen muss auf eine Langfristigkeit angelegt sein, durch konsequentes Weiterbauen gepflegt und an sich wandelnde Anforderungen angepasst werden.

Allzu leicht lässt sich der Abriss mit einem vermeintlichen Kostendruck, mit technischen Vorgaben oder der sich scheinbar selbstverstärkenden Auffassung, dass sich Reparieren generell nicht lohnt, begründen. Umso wichtiger ist es, den – nicht nur ökonomischen – Wert von Bestandsgebäuden zu erkennen, zu lesen und zu verstehen und darauf aufbauend gemeinsam über mögliche Konzepte für ein Um- und Weiterbauen nachzudenken.

Gerade das Handeln in ökologischer Vernunft eröffnet mit neuen Lebens-, Wohn- und Arbeitsformen eine große Chance für bestehende Bauten: Neue Wohnformen in alten Gebäuden, die Umnutzung leergefallener Kaufhäuser zu Orten des Wohnens und Arbeitens oder die Revitalisierung von Bauten im ländlichen Raum für neue Arbeitsmodelle sind Ansatzpunkte, um einen reduzierten Ressourcenverbrauch als kreatives Prinzip mit der Gemeinschaft auszugestalten und dafür Akzeptanz zu finden.

Einbezogen ist eine tiefgreifende Neuorientierung des gestalterischen und ökonomischen Selbstverständnisses von Architekt*innen. Nicht nur Tempo und Wucht des Klimawandels, sondern auch soziale Verwerfungen erfordern eine neue, eine nachdenklichere, eine sensiblere Haltung in Architektur und Urbanismus – eine Haltung des Sorgetragens gegenüber unserer Umwelt, gegenüber elementaren Bedürfnissen der Bewohner*innen, gegenüber gewachsenen Strukturen der Gemeinschaft und gegenüber den bestehenden Gebäuden.

Deutlich ist erkennbar, dass wir die Komfortzone des Gewohnten verlassen und über das Wohnen neu nachdenken müssen. Wir brauchen einen Perspektivwechsel, der sich von technischen Standardvorgaben löst und einen Diskurs über städtebauliche und architektonische Qualitäten führt, die den künftigen Wohn- und Lebensentwürfen gerecht werden. Mut zu neuen Standards lautet dazu der Aufruf des BDA, der 2016 mit der Publikation und Ausstellung Neue Standards. Zehn Thesen zum Wohnen vorgestellt wurde.

Sorge um den Bestand setzt dieses Nachdenken über neue Standards fort. Der Fokus liegt dabei auf einem achtsamen Erhalten, Reparieren und Weiterdenken des Gebäudebestands und der Frage, wie Architektur einen Beitrag zu einer ressourcenschonenden und dennoch bereichernden  Lebensweise  leisten kann. Dieser neue Standard lautet: Erhalte das Bestehende! Und: Erhalte das Bestehende mit der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft!

Wie die Sorge um den Bestand sich in der Architektur und der Haltung von Architekt*innen konkretisieren kann, verdeutlichen die hier vorgestellten zehn Strategien. Sie beschreiben eine perspektivische Sicht auf vielfältige Formen des Bestandes, öffnen einen Ausblick auf künftige Nutzungen und zeichnen ein sensibles Selbstverständnis der Architekt*innen, die  auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Menschen setzen. Doch eine akzeptierte Sorge um den Bestand bedarf mehr als die Kreativität, den Idealismus und den Wagemut der beteiligten Akteur*innen, sondern auch eine flankierende Gesetzgebung und Preise, die die wahren ökologischen Kosten von Boden, Materialien und Energie widerspiegeln.

 

SUSANNE WARTZECK
Architektin BDA und Präsidentin des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten BDA

Nach einer Tischlerlehre und einem Innenarchitektur- und Möbeldesignstudium an der Akademie der bildenden Künste in Nürnberg gründete sie zusammen mit Jörg Sturm das Büro Sturm und Wartzeck in Dipperz. Es folgte ein Architekturstudium an der Gesamthochschule Kassel. Susanne Wartzeck war in Gestaltungsbeiräten verschiedener Städte und als Vorsitzende des BDA Hessen tätig. Seit 2019 ist sie Präsidentin des BDA.

Zehn Strategien

KATJA FISCHER UND JAN KAMPSHOFF

 

Aufbruch ins Bestehende ist der Aufruf zu einer reduktiven Strategie, die die planetarischen Grenzen anerkennt und im Bestehenden durch kreatives Interagieren und Weiternutzen die gesellschaftlichen Zukunftsräume schafft. Denn die Welt ist gebaut, alles ist schon da. Knapp 22 Millionen Gebäude unterschiedlicher Altersklassen und Funktionen gibt es in Deutschland8. Auch wenn diese ungleich zwischen wachsenden und schrumpfenden Regionen verteilt sind und sich in der Güte ihrer Bausubstanz unterscheiden, ist dies eine üppige Baumasse für das Weiterbauen. Zugleich manifestiert der Blick auf das Bestehende die Abkehr vom Diktum des „Bauen, Bauen, Bauen“, das schon lange nicht mehr die steigenden Mieten und Hauspreise in den Griff bekommt. In diesem Paradigmenwechsel kommt dem Berufsstand der Architekt*innen und ihrem Werte- und Selbstverständnis eine gewichtige Rolle zu, um in Allianzen und Teilhabeprozessen zu einer geänderten Sichtweise auf das Vorhandene einzuladen – und dies gemeinsam fortzuschreiben.

 

KATJA FISCHER

Architektin, Mitglied im Gründungsteam der IBA Thüringen und Programmleiterin

Nach dem Studium in Weimar und Rotterdam (Niederlande) lehrte und forschte sie von 2004 bis 2011 im Bereich Wohnungsbau sowie Stadt- und Raumentwicklung und war Gastprofessorin am WAAC in Washington D. C./Alexandria (USA) und an der Bauhaus-Universität Weimar. Seit 2015 leitet sie das IBA-Projekt „Eiermannbau“ in Apolda und verantwortet die Programm- und Vermittlungsprozesse der IBA Thüringen, u. a. kuratierte sie die IBA-Zwischenpräsentation 2019.

JAN KAMPSHOFF

Architekt

Während seines Architekturstudiums an der msa | münster school of architecture gründete er gemeinsam mit Marc Günnewig das Atelier modulorbeat in Münster. modulorbeat arbeitet an der Schnittstelle von Architektur, Kunst und Urbanismus. Lehraufträge führten ihn an die Bergische Universität Wuppertal, an die University of Auckland (Neuseeland) und an die msa | münster school of architecture. Von 2009 bis 2015 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter für Architektonisches Entwerfen an der Universität Kassel. Als Gastprofessor lehrt Jan Kampshoff seit 2017 Entwerfen und Konstruktion an der TU Berlin.

 

 

SIMON JÜTTNER

 

Vom Wert der Permanenz formuliert eine Einladung zum Sehen und Aufspüren gebauter Geschichten und Spuren, die vom alltäglichen Leben wie von der ästhetischen und emotionalen Kraft der Gebäude erzählen. Es sind Werte, die Gebäude zu einem vertrauten Terrain werden lassen und damit Beständigkeit ebenso wie Veränderung symbolisieren. Dass die zeitlichen und baulichen Ebenen der Gebäude durch ein respektiertes Weiterbauen, Anpassen, Belassen fortgeschrieben und so die Ästhetik des Weitererzählens fortgeführt wird, ist Anliegen dieser Strategie. Doch wie gelingt das Weiterbauen im Spannungsfeld immobilienökonomischer Interessen und dem verantwortungsvollen Respekt vor dem Vorhandenen?

 

SIMON JÜTTNER 

Architekt BDA und Fotograf

Studium der Architektur an der TU München. Seit 2002 als Fotograf tätig. Zusammen mit Markus Lanz und Sebastian Schels firmieren sie als Fotokollektiv The Pk-Odessa Co. Mit Sebastian Kofink gründete Simon Jüttner (geb. Schels) 2014 das Münchner Architekturbüro Buero Kofink Schels. Ihre ersten Arbeiten stützten sich stark auf Eigeninitiative und Handarbeit, eine Erfahrung die sich in ihren Projekten in Form einer geradlinigen Handwerkskunst abbildet. Simon Jüttner war 2020 Stipendiat der Deutschen Akademie in Rom, Casa Baldi.

ANDREAS KRAUTH, URS KUMBERGER, VERENA SCHMIDT

 

Schön, dass Ihr da seid! steht für eine Strategie, die das Haus nicht mehr als Einzelbauwerk betrachtet, sondern als Teil eines Quartiers und damit als Lebensraum von Menschen. Mit einer prozesshaften Planungsstrategie, die Teilhabe ermöglicht, Raum für Ungeplantes offenhält, die mit differenzierten Sanierungskonzepten für Gebäude eines Quartiers den Ausgleich zwischen sozialen und ökonomischen Belangen ermöglicht, können soziale und bauliche Verdrängungskonflikte vermieden werden.

 

ANDREAS KRAUTH, URS KUMBERGER, VERENA SCHMID

Architekten/Architektin

Studium der Architektur an der TU München. Seit 2011 führen sie gemeinsam mit Marius Gantert Teleinternetcafe Architektur und Urbanismus, Berlin. Ihre Arbeitsweise ist geprägt von den Prinzipien der geteilten Autorenschaft, einer kooperativen und prozesshaften Projektentwicklung sowie einem experimentellen Umgang mit Gebäude- und Freiraumtypologien. Von 2017 bis 2018 leiteten sie gemeinsam das Fachgebiet Entwerfen und Stadtplanung an der TU Darmstadt. Seit 2019 vertreten sie dort in wechselnden Konstellationen die Professur für Entwerfen und Städtebau.

TABEA MICHAELIS, BEN POHL

 

Bestand ist Handlung plädiert für eine Strategie, die basierend auf dem sozialen und kulturellen Wert des Gebäudes eine neue Erzählung beginnt. Eine Erzählung, die kollektiv im Netzwerk der Beteiligten entsteht, die das Wissen der Menschen vor Ort einbezieht, eine neue Nutzungsidee mit Finanzierungsmodellen und Organisationsstrukturen verbindet und die mit angemessenen Umbaumaßnahmen eine schrittweise Aktivierung durch Pioniernutzungen zulässt. In dieser Aneignung liegt einer der wesentlichen Schlüssel, um Gebäude für die Gemeinschaft und außerhalb eines ökonomischen Verwertungsinteresses zu bewahren und zu erneuern. Diese Bestandsstrategie erfordert nicht nur ein erweitertes Berufsverständnis von Architekt*innen, sondern zwingend auch zivilgesellschaftliche Investor*innen, wie Stiftungen oder Genossenschaften mit einem hohen Interesse an langfristigem Bestandserhalt.

 

TABEA MICHAELIS

Landschaftsarchitektin, Urban Designerin

Studium der Landschaftsarchitektur und des Urban Design in Freising, Rapperswil (Schweiz) und Hamburg. Zusammen mit Barbara Buser und Eric Honegger ist sie Büropartnerin von Denkstatt in Basel (Schweiz). Denkstatt befasst sich mit städtebaulichen Transformationsprozessen im urbanen und ruralen Kontext und realisiert neue Nutzungskonzepte in einer interdisziplinären Arbeitsweise, im respektvollen Umgang mit vorhandenen Strukturen. Tabea Michaelis lehrt an verschiedenen Schweizer Hochschulen zu Themen städtebaulicher Transformationsprozesse.

BEN POHL

Urban Designer

Er studierte in Berlin und Hamburg und lehrt an der ETH Zürich im „Design in Dialoge“-Lab zu städtebaulichen Transformationsprozessen. Zusammen mit Barbara Buser und Tabea Michaelis ist er Initiator des B/IAS Basel Institut für angewandte Stadtforschung und  arbeitet im Team der Denkstatt an sozialräumlichen Entwicklungsprozessen und Dialogformaten.

EIKE ROSWAG-KLINGE, BERLIN

 

Den Anspruch, mit einfachen und kostensparenden Eingriffen den Bestand umzubauen, an neue Nutzungen anzupassen und dabei die Idee der Suffizienz zu verfolgen, konkretisiert sich in der Strategie Einfach umbauen – einfach transformieren. Umbau in ökologischer Verantwortung heißt, mit regenerativen Materialien und Naturbaustoffen, mit Low-Tech-Konzepten und im Selbstbau bestehende Gebäude oder deren Strukturen fortzuschreiben. Mit einem ökologischen Anspruch umzubauen erfordert auch, gewohnte Standards zu hinterfragen und neue Raummodelle zu testen: kompakte, flexible Grundrisse, die Mehrfachnutzungen für sich wandelnde soziale Strukturen, Wohn- und Arbeitsformen ermöglichen und die den sich wandelnden Nutzungen eines Gebäudes angepasst werden können. Was für das Gebäude gilt, gilt im Großen umso mehr: Die ökologische Transformation umfasst ebenso das Quartier, um die Verkehrsflächen schrittweise der Gemeinschaft als öffentliche Räume und Grünräume zurückzugeben.

 

EIKE ROSWAG-KLINGE

Architekt BDA

Nach einer Ausbildung zum Tischler folgte das Architekturstudium in Berlin. Eike Roswag-Klinge ist Mitinitiator von ZRS Architekten Ingenieure und leitet das Natural-Building-Lab der TU Berlin. Er erforscht, lehrt, entwirft und baut seit zwanzig Jahren klima- und ressourcenangepasste Architektur in verschiedenen Klimazonen. Seine Projekte umfassen Schulen aus Lehm und Bambus im globalen Süden sowie Wohngebäude, Produktionsstätten und Schulen aus Holz, Lehm und Naturfasern in Europa. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf klima- und kulturadaptiver Architektur und Low-Tech-Gebäudesystemen.

 

MICHAEL OBRIST

 

Kann die Digitalisierung eine reduktive Strategie unterstützen, um Bestehendes durch Teilen intensiver zu nutzen? Die Urban Blockchain ermöglicht neue Formen des Zusammenlebens über die eigene Wohnung hinaus und unterstützt digital den Verbund von Häusern und Gemeinschaften bei Themen der Mobilität, Raumnutzung und Kommunikation. Sie ist eine Chiffre für eine dezentrale, gemeinsam genutzte und vertrauensbasierte Datenbank, die durch eine Neuorganisation des Bestands reale Begegnungen in realen Räumen schafft. Durch die effizientere Nutzung des Bestehenden wird weiterer Flächenverbrauch vermieden.

 

MICHAEL OBRIST

Architekt

Professor für Wohnbau und Entwerfen an der TU Wien und gemeinsam mit Anne Catherine Fleith, Mario Paintner, Richard Scheich und Peter Zoderer Partner bei feld72, Wien (Österreich). Die Arbeit von feld72 reichen von Architektur über städtebauliche Studien bis zu Ausstellungsgestaltungen, urbanen Strategien und Interventionen im öffentlichen Raum. Dabei ist das Erkennen von Potenzialen der Orte und der sozialen Räume ein Grundelement der Projekte.

JÖRG HEILER

 

Für Neubauten und Straßen wird unvermindert weiter Landschaft zerstört und die biologische Vielfalt bedroht. Allein die Fläche für Industrie- und Gewerbebauten in Deutschland entspricht der 2,4-fachen Größe des Saarlands. Können Teile davon nicht intensiver, nicht umsichtiger und sorgsamer genutzt werden? Verteilung auf das Vorhandene in der Zwischenstadt  ist  eine Strategie, die die Nachfrage nach neuem Wohnraum nicht mit weiterem Flächenverbrauch beantwortet, sondern mit einer Neuinterpretation der Industrie- und Gewerbegebiete an den Stadträndern. In diesem ungeliebten Grenzbereich zwischen Stadt und Land, der Zwischenstadt, liegt die Chance, den baulichen Zwischenzustand zu einem Lebensort mit sozialer und ökologischer Perspektive weiterzubauen. Frei vom Zwang zum Konformismus erlaubt die Zwischenstadt neue Lebens- und Arbeitsformen in Kooperation zu entwickeln, monofunktional genutzte Industrieflächen und -gebäude zu einem Nebeneinander von Arbeiten und Wohnen zu transformieren und den Bezug zur umgebenden Landschaft als besondere Qualität zu nutzen.

 

DR. JÖRG HEILER

Architekt BDA

Architekturstudium an der TU München und der Architectural Association (AA) in London (Großbritannien). Zusammen mit Peter Geiger führt er das Architekturbüro heilergeiger architekten und stadtplaner BDA in Kempten. Ein Arbeitsschwerpunkt ist die multifunktional gemischte, nachverdichtete und ökologische Weiterentwicklung bestehender verstädterter und industrieller Landschaften. 2011 Promotion mit der Arbeit Handlungstaktiken für den gelebten Raum am Lehrstuhl für Städtebau und Regionalplanung der TU München bei Sophie Wolfrum und Karl Ganser.

ROLAND GRUBER, MARIA ISABETTINI, PETER NAGELER

 

Leerstand in den Regionen ist das Ergebnis von Abwanderung. Aber eben nicht nur. Eine verfehlte Attraktivitäts- und Baupolitik führt zur dominanten Wohnform des Eigenheims, zu peripheren Einkaufszentren und einer stark ausgebauten Verkehrsinfrastruktur. Im Ergebnis steigt der Flächenverbrauch an den Rändern der Dörfer und Städte – und dies zu Lasten des Lebens in ihren Zentren. Statt eines vitalen Kerns ist dort ein Loch, sie sehen aus wie ein Donut. Donuts müssen Krapfen werden ist eine Strategie zur Aktivierung des Leerstands in Stadt- und Dorfzentren, die anerkennt, dass Verlorenes nicht wiederbelebt, aber neu interpretiert werden kann. Dies gelingt dann am besten, wenn die Menschen vor Ort die Zukunftsbilder für ihre Lebenswirklichkeit mitentwickeln.

 

ROLAND GRUBER, MARIA ISABETTINI, PETER NAGELER

Roland Gruber ist Architekt, Mitgründer, Partner und Geschäftsführer. Maria Isabettini ist Architektin und konzipiert und moderiert als Projektleiterin im Berliner Büro partizipative Prozesse. Peter Nageler ist Architekt, Mitgründer und Partner. nonconform ist ein Architekturbüro mit ausgeprägter partizipativer Arbeitsweise, um gemeinsam Räume zu gestalten, die Menschen ein gutes Leben auf dem Land und in der Stadt ermöglichen. Ihre Projekte zielen auf eine nachhaltige Entwicklung von Orten und die Revitalisierung von Gebäuden, öffentlichen Räumen und Infrastrukturen.

DIRK E. HEBEL

 

Der Blick auf die Bauweisen zeigt, dass Bauen nach wie vor ein ökologisches Desaster ist, das durch billige Rohstoffe und preiswerte Abfallentsorgung befeuert wird. 100 % Ressource. Bauten als Rohstofflager  fordert ein prinzipielles Umdenken für materialintensives Bauen: Im Verständnis eines zirkulären Materialeinsatzes wird der Gebäudebestand zum Depot und Ressourcenlieferant für künftige Bauten. An die Stelle des Downcyclings von Baustoffen und Bauteilen nach dem Abriss tritt eine umfassende Wiederverwendung und -verwertung. Der Neubau nutzt dieses Depot. Zudem sind Neubauten konsequent so zu entwerfen und zu konstruieren, dass 100 Prozent der Materialien wiederverwendbar sind. Erreicht wird dies mit sortenreinen Konstruktionen, reversiblen Montageprinzipien und lösbaren oder im biologischen Kreislauf gehaltenen Beschichtungen, Lackierungen oder Veredelungen.

 

DIRK E. HEBEL

Architekt

Seit 2017 Professor für Nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für Technologie und seit 2019 Dekan der Fakultät Architektur. Zuvor war er Assistenzprofessor für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich (von 2012–2016) und Forschungsleiter für alternative Baumaterialien am Future City Laboratory Singapore. Von 2009 bis 2012 war er wissenschaftlicher Direktor des Äthiopischen Instituts für Architektur, Baukonstruktion und Stadtentwicklung. Er unterrichtete zudem an der Princeton University und an der Syracuse University (USA).

AYŞIN İPEKÇI UND KAMIEL KLAASSE

 

Das Bewusstsein für Herkunft und Herstellungsdauer der Rohstoffe ist bei einer Planung genauso wichtig wie das Entwickeln anpassungsfähiger Gebäudestrukturen, die den ökologischen Wert eines Gebäudes bewahren, nutzen und weiter wachsen lassen. Wachsender Bestand ruft ins Bewusstsein, dass die heute errichteten Gebäude der Bestand von morgen sind und damit kommende ökologische Fragen begründen. Dass Gebäude an ihren künftigen Anforderungen wachsen können, dafür spricht sich die Strategie einer Auseinandersetzung über das Maß an Transformationsfähigkeit von Gebäuden und über die Auswahl von regenerativen Materialien aus.

 

AYŞIN İPEKÇI

Architektin BDA

Dem Studium der Architektur an der RTWH Aachen folgten erste Berufsjahre in Köln, Istanbul (Türkei) und Tokio (Japan). 2007 gründete sie STUDYO ARCHITECTs in Köln. Von 2003 bis 2005 war sie als Dozentin an der FH Düsseldorf für den Aufbau Internationale Gastprofessur zuständig. Von 2005 bis 2012 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bergischen Universität Wuppertal. Regelmäßige kuratorische und redaktionelle Tätigkeiten zählen ebenso zu ihrem Portfolio. Seit 2017 ist sie Jurymitglied der Sparte Architektur, Innenarchitektur, Gartenarchitektur, Städtebau, Design des Förderpreises des Landes Nordrhein- Westfalen für junge Künstlerinnen und Künstler. Seit 2020 hat sie eine Gastprofessur an der Detmolder Schule für Architektur und Innenarchitektur inne.

KAMIEL KLAASSE

Architekt

Nach dem Architekturstudium an der TU Delft (Niederlande) folgte 1997 zusammen mit Walter van Dijk, Pieter Bannenberg und Marc Linnemann die Gründung von NL Architects. Projekte des in Amsterdam (Niederlande) ansässigen Büros verbinden Handlungen der Menschen im Alltag mit sozialen, teilweise auch performativen Möglichkeiten von Stadt und Architektur und öffnen Optionen, wie der Einzelne im Stadtraum aktiv werden kann. Gezielt wird Architektur dazu als benutzbares Objekt inszeniert, wie eine Fassade als Kletterwand oder ein Basketballfeld auf dem Dach.

Medien

Matthias Böttger
im Deutschlandfunk Kultur
über „Sorge um den Bestand”

www.ardaudiothek.de