Susanne Wartzeck: Achtung des Bestands

Susanne Wartzeck
Präsidentin des BDA

Erhalte das Bestehende! So lautet der neue Imperativ des Bauens angesichts der Klimakrise. Eindeutig ist dazu die Position des BDA: Priorität kommt dem Erhalt und dem Weiterbauen des Bestehenden zu und nicht dessen leichtfertigem Abriss.

Blauäugig oder romantisierend? Zugegeben, die damit verbundenen Fragen sind vielfältig.

Welche Zukunftsbilder formulieren produktive und überzeugende Ideen, die Menschen motivieren, eingeschlagene Pfade im Denken und Handeln zu verlassen? Ist dabei der propagierte Verzicht ein erstes Anzeichen für eine Ökodiktatur? Eine ökologische Transformation unserer auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaftsweise wird mental und gesellschaftlich nur

dann gelingen, wenn sich die damit verbundenen Lebens- und Arbeitsweisen im Alltag der Menschen bewähren. Könnte ein reduzierter Ressourcenverbrauch durch das Mitnutzen, das Weiternutzen und das Reparieren als Alternative zur Wegwerfgesellschaft eine Akzeptanz finden?

Erforderlich ist dafür ein Umdenken im kleinen Maßstab des täglichen Konsums wie im großen Maßstab des Bauens. Bauen ist nach wie vor immens ressourcenintensiv. Das muss sich ändern. Bauen muss vermehrt ohne Neubau auskommen. Das Bestehende zu erhalten und weiterzubauen, den kulturellen und ökologischen Wert des Gebäudebestands weiterzudenken, ist eine große Zukunftsoption, um die Zusammenhänge zwischen Gebäude und Stadt, zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen in eine ökologische Balance zu bringen.

Weder als Gesellschaft noch als Berufsstand können wir die betriebswirtschaftlich begründete Lebensdauer von dreißig Jahren für Gebäude akzeptieren. Zu wertvoll sind dafür die verbauten Ressourcen, zu wertvoll sind die mit den Häusern gewachsenen sozialen Strukturen und ihre erzählenden Geschichten. Bauen muss auf eine Langfristigkeit angelegt sein, durch konsequentes Weiterbauen gepflegt und an sich wandelnde Anforderungen angepasst werden.

Allzu leicht lässt sich der Abriss mit einem vermeintlichen Kostendruck, mit technischen Vorgaben oder der sich scheinbar selbstverstärkenden Auffassung, dass sich Reparieren generell nicht lohnt, begründen. Umso wichtiger ist es, den – nicht nur ökonomischen – Wert von Bestandsgebäuden zu erkennen, zu lesen und zu verstehen und darauf aufbauend gemeinsam über mögliche Konzepte für ein Um- und Weiterbauen nachzudenken.

Gerade das Handeln in ökologischer Vernunft eröffnet mit neuen Lebens-, Wohn- und Arbeitsformen eine große Chance für bestehende Bauten: Neue Wohnformen in alten Gebäuden, die Umnutzung leergefallener Kaufhäuser zu Orten des Wohnens und Arbeitens oder die Revitalisierung von Bauten im ländlichen Raum für neue Arbeitsmodelle sind Ansatzpunkte, um einen reduzierten Ressourcenverbrauch als kreatives Prinzip mit der Gemeinschaft auszugestalten und dafür Akzeptanz zu finden.

Einbezogen ist eine tiefgreifende Neuorientierung des gestalterischen und ökonomischen Selbstverständnisses von Architekt*innen. Nicht nur Tempo und Wucht des Klimawandels, sondern auch soziale Verwerfungen erfordern eine neue, eine nachdenklichere, eine sensiblere Haltung in Architektur und Urbanismus – eine Haltung des Sorgetragens gegenüber unserer Umwelt, gegenüber elementaren Bedürfnissen der Bewohner*innen, gegenüber gewachsenen Strukturen der Gemeinschaft und gegenüber den bestehenden Gebäuden.

Deutlich ist erkennbar, dass wir die Komfortzone des Gewohnten verlassen und über das Wohnen neu nachdenken müssen. Wir brauchen einen Perspektivwechsel, der sich von technischen Standardvorgaben löst und einen Diskurs über städtebauliche und architektonische Qualitäten führt, die den künftigen Wohn- und Lebensentwürfen gerecht werden. Mut zu neuen Standards lautet dazu der Aufruf des BDA, der 2016 mit der Publikation und Ausstellung Neue Standards. Zehn Thesen zum Wohnen vorgestellt wurde.

Sorge um den Bestand setzt dieses Nachdenken über neue Standards fort. Der Fokus liegt dabei auf einem achtsamen Erhalten, Reparieren und Weiterdenken des Gebäudebestands und der Frage, wie Architektur einen Beitrag zu einer ressourcenschonenden und dennoch bereichernden  Lebensweise  leisten kann. Dieser neue Standard lautet: Erhalte das Bestehende! Und: Erhalte das Bestehende mit der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft!

Wie die Sorge um den Bestand sich in der Architektur und der Haltung von Architekt*innen konkretisieren kann, verdeutlichen die hier vorgestellten zehn Strategien. Sie beschreiben eine perspektivische Sicht auf vielfältige Formen des Bestandes, öffnen einen Ausblick auf künftige Nutzungen und zeichnen ein sensibles Selbstverständnis der Architekt*innen, die  auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Menschen setzen. Doch eine akzeptierte Sorge um den Bestand bedarf mehr als die Kreativität, den Idealismus und den Wagemut der beteiligten Akteur*innen, sondern auch eine flankierende Gesetzgebung und Preise, die die wahren ökologischen Kosten von Boden, Materialien und Energie widerspiegeln.

Susanne Wartzeck
Architektin BDA und Präsidentin des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten BDA

Nach einer Tischlerlehre und einem Innenarchitektur- und Möbeldesignstudium an der Akademie der bildenden Künste in Nürnberg gründete sie zusammen mit Jörg Sturm das Büro Sturm und Wartzeck in Dipperz. Es folgte ein Architekturstudium an der Gesamthochschule Kassel. Susanne Wartzeck war in Gestaltungsbeiräten verschiedener Städte und als Vorsitzende des BDA Hessen tätig. Seit 2019 ist sie Präsidentin des BDA.

Klaus Hartmann
Klaus Hartmann

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